Ernährungslage
Autor: Manuel Schwanse
Die Versorgungskrise und die Hungererfahrungen der Wasserburger Bevölkerung (1945 – 1950)
Einführung
Die Menschen sorgten sich in den ersten Nachkriegsjahren vor allem um die Herausforderungen des Alltags.[1] Die Probleme des täglichen Überlebens, wozu neben Hunger auch Wohnungsnot, Mangel an Kohle, Wasser und Elektrizität und andere Entbehrungen gehörten, wurden zu einer prägenden und kollektiven Grunderfahrung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung.[2] Die Ernährungskrise kam nach dem Krieg und den damit verbundenen Menschenverlusten, Zerstörungen und Vertreibungen obendrein noch dazu. In ländlich geprägten Gebieten wie Wasserburg a. Inn war die Versorgungslage besser als in den großstädtischen Ballungszentren.[3] Je urbanisierter eine Region war, desto schlechter war dort in der Nachkriegszeit die Ernährungslage. Typische Hungererfahrungen und Verhaltensweisen der Menschen in der Nachkriegszeit zeigten sich jedoch unabhängig von der Schärfe der Ernährungskrise.
Das Bewirtschaftungs- und Rationierungssystem
Bereits Ende August 1939 hatten die Nationalsozialisten ein komplexes Rationierungssystem eingerichtet und kurz vor dem Überfall auf Polen wurden die ersten Lebensmittelkarten ausgegeben.[4] Das gut durchdachte Rationierungssystem wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als gerecht empfunden und funktionierte fast bis zum letzten Kriegstag. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 brach das Ernährungs- und Versorgungssystem in Deutschland vollends zusammen. Als die Importe aus den besetzten Gebieten nach Kriegsende stoppten und zudem die landwirtschaftlichen Überschussgebiete östlich von Oder und Neiße verloren gingen, nahm die Hungerkrise ihren Lauf.[5] Im Bereich der Versorgungsverwaltung griff man im Wesentlichen auf die Strukturen des von den Nationalsozialisten aufgebauten Versorgungssystems zurück.[6] Die Ernährungswirtschaft wurde zwischen 1939 und 1950 von zwei Säulen getragen: Dem Bewirtschaftungssystem, welches die Landwirtschaft reglementierte und dem Rationierungssystem, das die Verbraucher mit Lebensmitteln versorgte. Dabei wurden Lebensmittel mit Hilfe von Bezugsscheinen aufs Gramm genau an die Menschen verteilt. Innerhalb der ‚Rationen-Gesellschaft‘ der Nachkriegszeit kann eine Differenzierung vorgenommen werden: So gab es die Selbstversorger, deren Anteil in ländlichen Regionen wie dem Landkreis Wasserburg a. Inn größer war als beispielsweise in München und die in der Regel den besten Lebensstandard hatten, da sie dem staatlichen Zuteilungssystem nicht unmittelbar unterworfen waren. Innerhalb der schlechter versorgten Gruppe der Normalverbraucher gab es eine Altersstaffelung. Das komplexe Verteilungssystem wurde durch Zulagekarten für bestimmte Gruppen weiter ausdifferenziert: Arbeiter, Kranke, Alte und Schwerbeschädigte, werdende und stillende Mütter, politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge erhielten Lebensmittelzulagen.[7]
Die Hungerkrise in Bayern und Deutschland
Die Versorgungslage in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reiches‘ war katastrophal. Im Juni 1945 wurden in Bayern an Normalverbraucher 1.043 Kalorien pro Tag ausgegeben.[8] Zwar versprachen Amerikaner und Briten dem Länderrat im Dezember 1945, 1.550 Kalorien sicherzustellen[9], doch konnte dieser Kaloriensatz nicht eingehalten werden. So wurden zum Beispiel in München im Sommer 1946 920 Kalorien pro Kopf verteilt.[10] In der US-Zone musste der Normalverbraucher mit einer durchschnittlichen Tagesration von einem halben Teelöffel Zucker, einem fingernagelgroßen Stück Fett, Fleisch in der Größe eines Radiergummis, zwei Kartoffeln, einer Prise Kaffee-Ersatz und einem Schluck Magermilch auskommen.[11] Noch schlimmer stellte sich die Ernährungslage im Ruhrgebiet oder auch in Leipzig dar, wo bisweilen ‚Friedhofsrationen‘ um 800 Kalorien pro Tag verteilt wurden.[12] Ein amerikanischer Arzt empfahl in einem Gutachten ein tägliches Nahrungssoll von 2.600 Kalorien für den erwachsenen Normalverbraucher.[13] Dieser Wert wurde in München und anderen deutschen Großstädten nie erreicht. Den Höhepunkt der Hungerkrise stellte das Jahr 1947 dar.[14] Verantwortlich dafür war vor allem der Winter 1946/1947, der als einer der härtesten des gesamten Jahrhunderts gilt, bereits Mitte Dezember einsetzte und bis März 1947 andauerte.[15] Konrad Adenauer schrieb am 10. Dezember 1946 in einem Privatbrief: Ich hoffe, daß der größte Teil des deutschen Volkes diesen Winter übersteht. Aber die Verhältnisse sind sehr ernst und sehr traurig…[16]. Zwischen April und Juni 1947 wurden in fast allen Teilen der Bizone nur zwischen 850 und 1.050 Kalorien pro Tag ausgegeben.[17] Wegen der katastrophalen Ernährungslage kam es im Mai 1947 in mehreren bayerischen Betrieben zu Hungerstreiks.[18] Zu allem Überfluss folgte auf den Jahrhundertwinter ein Jahrhundertsommer. Der August 1947 galt als trockenster Monat der vergangenen hundert Jahre.[19] Der Frust der Bevölkerung über die anhaltende Versorgungskrise entlud sich im Frühjahr 1948 in einer neuen Streik- und Protestwelle, die praktisch die ganze Bizone umfasste. So befanden sich in Bayern am 22. und 23. Januar 1948 etwa eine Million Arbeiter im Generalstreik.[20] 1948/1949 besserten sich die Ernährungslage und die Agrarproduktion. Verantwortlich dafür waren der Marshallplan, die Währungsreform und die günstige Witterung.[21] Konnten im Juni 1948 noch 1.535 Tageskalorien ausgegeben werden, waren es im September immerhin 1.845 und im Mai 1949 gar 2.350.[22] In den Monaten nach der Währungsreform wurden die Bewirtschaftungsvorschriften langsam gelockert und einige Lebensmittel von der rationierten Verteilung befreit. Im Frühsommer 1949 konnte ein großer Teil der Lebensmittel frei und ohne Marken gekauft werden. Das vor dem Hintergrund der ökonomischen Entwicklung nicht mehr zeitgemäße Bewirtschaftungssystem wurde von der Marktwirtschaft abgelöst. Am 30. April 1950 endete in der Bundesrepublik Deutschland nach elf Jahren endgültig das Rationierungssystem.
Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg a. Inn
In den unmittelbaren Nachkriegsmonaten war die Situation auch in Wasserburg katastrophal. Nach einem Monatsbericht der amerikanischen Militärregierung im Kreis Wasserburg wurden zwischen dem 25. Juni und dem 22. Juli 1945 Hungerrationen von gerade einmal 654 Kalorien pro Tag ausgegeben.[23] Dieser Wert steigerte sich im nächsten Monat auf immer noch völlig unzureichende 947 Tageskalorien. Erst ab November besserte sich die Lage. Als Folge der Mangelernährung im letzten Kriegsjahr und der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte die Militärregierung in ihrem Jahresbericht 1945 einen deutlichen Gewichtsverlust und einen generell schlechten Gesundheitszustand bei der Wasserburger Bevölkerung fest.[24] Im Verlaufe des Jahres 1946 besserte sich die Situation. Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg war wesentlich entspannter als beispielsweise in München. Wenn etwas fehlte, waren es vor allem minder wichtige Erzeugnisse wie Marmelade, Fruchtsäfte oder Zucker. Ein Grund dafür ist sicherlich der hohe Anteil an Selbstversorgern im agrarisch geprägten Landkreis Wasserburg a. Inn. Von 54.000 im Landkreis lebenden Personen waren im August 1946 23.000 als Selbstversorger eingestuft.[25] Diese Quote an Selbstversorgern übertrifft den Anteil an der gesamtdeutschen (14%) und auch an der bayerischen (25%) Bevölkerung deutlich. Demnach war auch die amerikanische Militärregierung der Ansicht, dass die Wasserburger Bevölkerung keinen Grund habe, sich über die Ernährungslage zu beschweren.[26] Doch konnten eben nicht alle Wasserburger der Gruppe der Landwirte und ihrer Angehörigen zugerechnet werden. Vor allem die Kinder der Normalverbraucher hatten unter der Unterernährung zu leiden. Im April des Katastrophenjahres 1947 verschärfte sich die Situation in Wasserburg genauso wie in ganz Bayern dramatisch. Im Mai erhielt der erwachsene Normalverbraucher nur noch fünf Kilogramm Brot, das waren pro Tag gerade einmal 167 Gramm. Zudem konnten in der nächsten Zuteilungsperiode auch die festgesetzten Rationssätze für Kartoffeln nicht ausgegeben werden.[27] Dies war insofern höchst problematisch, als Brot und Kartoffeln die beiden hauptsächlichen Kalorienträger waren. Die Verzweiflung der besorgten und entkräfteten Wasserburger Bevölkerung zeigt sich in zahlreichen Schreiben an das Ernährungsamt. So wandte sich ein Bürger im Juni 1947 mit der Bitte an das Ernährungsamt, ihm eine Bezugsquelle für Kartoffeln bekannt zu geben:
Wissen die Herren vom Ernährungsamt, was das für eine Frau heisst, wenn sie für 6 Personen kochen soll und keine Kartoffeln hat? Der Kartoffelvorrat bei uns dürfte nur noch für wenige Tage reichen und was dann? Dabei sind doch die anderen Zuteilungen an Brot, Fett, Nährmittel udgl. so gering, dass man ein Hungerkünstler sein muss, um davon leben zu können.[28]
Die Antwort des Ernährungsamtes fiel für den betroffenen Wasserburger und seine Familie ernüchternd aus: Zwar habe man sich für ihn bemüht, doch musste man feststellen, dass bei Erfassungsbetrieben und Verteilern keine Kartoffeln mehr vorhanden waren. Die Lage auf dem Kartoffelmarkt in Wasserburg sei gegenwärtig katastrophal.[29] Dank einer frühzeitigen Kartoffelernte besserte sich die Ernährungslage im Landkreis im September 1947.[30] Nach der Währungsreform ging es in Stadt und Landkreis Wasserburg wirtschaftlich und ernährungsmäßig aufwärts.
Die Versorgung der Fremden
Illegale Zusatzversorgung
Bürokratische Erfahrung
Vergleichsmentalität
Kampf gegen Hunger und Elend: Die Arbeiterwohlfahrt Wasserburg a. Inn
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Empfohlene Zitierweise:
Manuel Schwanse, Ernährungslage, publiziert am 19.03.2019 [=Tag der letzten Änderung(en) an dieser Seite]; in: Historisches Lexikon Wasserburg, URL: https://www.historisches-lexikon-wasserburg.de/Ern%C3%A4hrungslage (20.12.2025)
- ↑ Dieser Beitrag fußt auf Manuel Schwanse, Die Ernährungslage in Bayern 1945 – 1950 unter besonderer Berücksichtigung des Landkreises Wasserburg a. Inn. Arbeit des 1. Preisträgers des wissenschaftlichen Wettbewerbes local History & History of Arts der Stadt Wasserburg am Inn, 2016. Der Beitrag ist im Angebot Siegerarbeiten des Städtischen Geschichtswettbewerbs digital verfügbar. Hier gelangen Sie direkt zum Digitalisat.
- ↑ Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 2006, 30–31./ Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, 2009, 25./ Andreas Wirsching, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 2011, 87.
- ↑ Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 2), 26.
- ↑ Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, 2005, 196.
- ↑ Hans Schlange-Schöninngen (Hg.), Im Schatten des Hungers. Dokumentarisches zur Ernährungspolitik und Ernährungswirtschaft in den Jahren 1945-1949, bearb. v. Justus Rohrbach, 1955, 23.
- ↑ Rainer Gries, Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, 1991, 21–28./ Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953, 1990, 36–40.
- ↑ Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 195.
- ↑ Brief des Bayerischen Ministerpräsidenten Fritz Schäffer vom 7. Juni 1945 an den Schweizer Konsul Dr. Frei, BayHStA, Landesernährungsamt Bayern, Abt. B 41 (=Lebensmittelversorgung 1944–1945).
- ↑ Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 196.
- ↑ Peter Jakob Kock/Manfred Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Manfred Treml (Hg.), Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, 2006, 391–515, hier 430.
- ↑ Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 411.
- ↑ Günter J. Trittel, Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945–1949), 1990, 216.
- ↑ Margot Fuchs, „Zucker, wer hat? Öl, wer kauft?“. Ernährungslage und Schwarzmarkt in München 1945–1948, in: Friedrich Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbrauch 1945–1949, 1984, 312–319, hier 313.
- ↑ Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 236.
- ↑ Wolfrum, Die geglückte Demokratie (wie Anm. 2), 31.
- ↑ Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 81.
- ↑ Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 95.
- ↑ Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 430.
- ↑ Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 179.
- ↑ Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 158.
- ↑ Schlange-Schöningen, Im Schatten des Hungers (wie Anm. 5), 186–187.
- ↑ Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 185–186.
- ↑ Monthly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn November 1945, undatiert, Institut für Zeitgeschichte (IfZ), RG 260, 10/78-2/5 (=Annual, Quarterly and Monthly Historical Reports of Det. E-283 Wasserburg a. Inn).
- ↑ Annual Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1945–1946, 30.6.1946, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.
- ↑ Brief des Landrats von Wasserburg a. Inn vom 29.8.1946 an den Regierungspräsidenten in München, StAM, Ernährungsämter B 365 (=Allgemeiner Schriftwechsel des Ernährungsamtes Abt. B mit dem Landrat (Berichte über die Ernährungslage) und sonstigen Dienststellen 1945–1950).
- ↑ Quarterly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1.10.1946 – 31.12.1946, undatiert, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.
- ↑ Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 20.6.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 365.
- ↑ Brief von Karl Gottwald vom 16.6.1947 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 343 (=Zuteilung von Lebensmittelkarten an Kranke, Flüchtlingslager usw.; Ordnungsstrafen wegen Schwarzschlachtungen u.a. (alphabetisch nach Namen) 1945–1949).
- ↑ Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 2.7.1947 an Karl Gottwald, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
- ↑ Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 22.9.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 365.