Ernährungslage: Unterschied zwischen den Versionen

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== Die Hungerkrise in Bayern und Deutschland ==
 
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Die Versorgungslage in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reiches‘ war katastrophal. Im Juni 1945 wurden in Bayern an Normalverbraucher 1.043 Kalorien pro Tag ausgegeben.<ref>Brief des Bayerischen Ministerpräsidenten Fritz Schäffer vom 7. Juni 1945 an den Schweizer Konsul Dr. Frei, BayHStA, Landesernährungsamt Bayern, Abt. B 41 (=Lebensmittelversorgung 1944–1945).</ref> Zwar versprachen Amerikaner und Briten dem Länderrat im Dezember 1945, 1.550 Kalorien sicherzustellen<ref>Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 196.</ref>, doch konnte dieser Kaloriensatz nicht eingehalten werden. So wurden zum Beispiel in München im Sommer 1946 920 Kalorien pro Kopf verteilt.<ref>Peter Jakob Kock/Manfred Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Manfred Treml (Hg.), Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, 2006, 391–515, hier 430.</ref> In der US-Zone musste der Normalverbraucher ''mit einer durchschnittlichen Tagesration von einem halben Teelöffel Zucker, einem fingernagelgroßen Stück Fett, Fleisch in der Größe eines Radiergummis, zwei Kartoffeln, einer Prise Kaffee-Ersatz und einem Schluck Magermilch auskommen''.<ref>Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 411.</ref> Noch schlimmer stellte sich die Ernährungslage im Ruhrgebiet oder auch in Leipzig dar, wo bisweilen ‚Friedhofsrationen‘ um 800 Kalorien pro Tag verteilt wurden.<ref>Günter J. Trittel, Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945–1949), 1990, 216.</ref> Ein amerikanischer Arzt empfahl in einem Gutachten ein tägliches Nahrungssoll von 2.600 Kalorien für den erwachsenen Normalverbraucher.<ref>Margot Fuchs, „Zucker, wer hat? Öl, wer kauft?“. Ernährungslage und Schwarzmarkt in München 1945–1948, in: Friedrich Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbrauch 1945–1949, 1984, 312–319, hier 313.</ref> Dieser Wert wurde in München und anderen deutschen Großstädten nie erreicht. Den Höhepunkt der Hungerkrise stellte das Jahr 1947 dar.<ref>Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 236.</ref> Verantwortlich dafür war vor allem der Winter 1946/1947, der als einer der härtesten des gesamten Jahrhunderts gilt, bereits Mitte Dezember einsetzte und bis März 1947 andauerte.<ref>Wolfrum, Die geglückte Demokratie (wie Anm. 2), 31.</ref> Konrad Adenauer schrieb am 10. Dezember 1946 in einem Privatbrief: ''Ich hoffe, daß der größte Teil des deutschen Volkes diesen Winter übersteht. Aber die Verhältnisse sind sehr ernst und sehr traurig…''<ref>Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 81.</ref>. Zwischen April und Juni 1947 wurden in fast allen Teilen der Bizone nur zwischen 850 und 1.050 Kalorien pro Tag ausgegeben.<ref>Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 95.</ref> Wegen der katastrophalen Ernährungslage kam es im Mai 1947 in mehreren bayerischen Betrieben zu Hungerstreiks.<ref>Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 430.</ref> Zu allem Überfluss folgte auf den Jahrhundertwinter ein Jahrhundertsommer. Der August 1947 galt als trockenster Monat der
  
 
== Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg a. Inn ==
 
== Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg a. Inn ==

Version vom 18. März 2019, 15:16 Uhr

Autor: Manuel Schwanse

Die Versorgungskrise und die Hungererfahrungen der Wasserburger Bevölkerung (1945 – 1950)

Einführung

Die Menschen sorgten sich in den ersten Nachkriegsjahren vor allem um die Herausforderungen des Alltags.[1] Die Probleme des täglichen Überlebens, wozu neben Hunger auch Wohnungsnot, Mangel an Kohle, Wasser und Elektrizität und andere Entbehrungen gehörten, wurden zu einer prägenden und kollektiven Grunderfahrung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung.[2] Die Ernährungskrise kam nach dem Krieg und den damit verbundenen Menschenverlusten, Zerstörungen und Vertreibungen obendrein noch dazu. In ländlich geprägten Gebieten wie Wasserburg a. Inn war die Versorgungslage besser als in den großstädtischen Ballungszentren.[3] Je urbanisierter eine Region war, desto schlechter war dort in der Nachkriegszeit die Ernährungslage. Typische Hungererfahrungen und Verhaltensweisen der Menschen in der Nachkriegszeit zeigten sich jedoch unabhängig von der Schärfe der Ernährungskrise.

Das Bewirtschaftungs- und Rationierungssystem

Bereits Ende August 1939 hatten die Nationalsozialisten ein komplexes Rationierungssystem eingerichtet und kurz vor dem Überfall auf Polen wurden die ersten Lebensmittelkarten ausgegeben.[4] Das gut durchdachte Rationierungssystem wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als gerecht empfunden und funktionierte fast bis zum letzten Kriegstag. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 brach das Ernährungs- und Versorgungssystem in Deutschland vollends zusammen. Als die Importe aus den besetzten Gebieten nach Kriegsende stoppten und zudem die landwirtschaftlichen Überschussgebiete östlich von Oder und Neiße verloren gingen, nahm die Hungerkrise ihren Lauf.[5] Im Bereich der Versorgungsverwaltung griff man im Wesentlichen auf die Strukturen des von den Nationalsozialisten aufgebauten Versorgungssystems zurück.[6] Die Ernährungswirtschaft wurde zwischen 1939 und 1950 von zwei Säulen getragen: Dem Bewirtschaftungssystem, welches die Landwirtschaft reglementierte und dem Rationierungssystem, das die Verbraucher mit Lebensmitteln versorgte. Dabei wurden Lebensmittel mit Hilfe von Bezugsscheinen aufs Gramm genau an die Menschen verteilt. Innerhalb der ‚Rationen-Gesellschaft‘ der Nachkriegszeit kann eine Differenzierung vorgenommen werden: So gab es die Selbstversorger, deren Anteil in ländlichen Regionen wie dem Landkreis Wasserburg a. Inn größer war als beispielsweise in München und die in der Regel den besten Lebensstandard hatten, da sie dem staatlichen Zuteilungssystem nicht unmittelbar unterworfen waren. Innerhalb der schlechter versorgten Gruppe der Normalverbraucher gab es eine Altersstaffelung. Das komplexe Verteilungssystem wurde durch Zulagekarten für bestimmte Gruppen weiter ausdifferenziert: Arbeiter, Kranke, Alte und Schwerbeschädigte, werdende und stillende Mütter, politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge erhielten Lebensmittelzulagen.[7]

Die Hungerkrise in Bayern und Deutschland

Die Versorgungslage in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reiches‘ war katastrophal. Im Juni 1945 wurden in Bayern an Normalverbraucher 1.043 Kalorien pro Tag ausgegeben.[8] Zwar versprachen Amerikaner und Briten dem Länderrat im Dezember 1945, 1.550 Kalorien sicherzustellen[9], doch konnte dieser Kaloriensatz nicht eingehalten werden. So wurden zum Beispiel in München im Sommer 1946 920 Kalorien pro Kopf verteilt.[10] In der US-Zone musste der Normalverbraucher mit einer durchschnittlichen Tagesration von einem halben Teelöffel Zucker, einem fingernagelgroßen Stück Fett, Fleisch in der Größe eines Radiergummis, zwei Kartoffeln, einer Prise Kaffee-Ersatz und einem Schluck Magermilch auskommen.[11] Noch schlimmer stellte sich die Ernährungslage im Ruhrgebiet oder auch in Leipzig dar, wo bisweilen ‚Friedhofsrationen‘ um 800 Kalorien pro Tag verteilt wurden.[12] Ein amerikanischer Arzt empfahl in einem Gutachten ein tägliches Nahrungssoll von 2.600 Kalorien für den erwachsenen Normalverbraucher.[13] Dieser Wert wurde in München und anderen deutschen Großstädten nie erreicht. Den Höhepunkt der Hungerkrise stellte das Jahr 1947 dar.[14] Verantwortlich dafür war vor allem der Winter 1946/1947, der als einer der härtesten des gesamten Jahrhunderts gilt, bereits Mitte Dezember einsetzte und bis März 1947 andauerte.[15] Konrad Adenauer schrieb am 10. Dezember 1946 in einem Privatbrief: Ich hoffe, daß der größte Teil des deutschen Volkes diesen Winter übersteht. Aber die Verhältnisse sind sehr ernst und sehr traurig…[16]. Zwischen April und Juni 1947 wurden in fast allen Teilen der Bizone nur zwischen 850 und 1.050 Kalorien pro Tag ausgegeben.[17] Wegen der katastrophalen Ernährungslage kam es im Mai 1947 in mehreren bayerischen Betrieben zu Hungerstreiks.[18] Zu allem Überfluss folgte auf den Jahrhundertwinter ein Jahrhundertsommer. Der August 1947 galt als trockenster Monat der

Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg a. Inn

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Empfohlene Zitierweise:
Manuel Schwanse, Ernährungslage, publiziert am 18.03.2019 [=Tag der letzten Änderung(en) an dieser Seite]; in: Historisches Lexikon Wasserburg, URL: https://www.historisches-lexikon-wasserburg.de/Ern%C3%A4hrungslage (29.04.2024)


  1. Dieser Beitrag fußt auf Manuel Schwanse, Die Ernährungslage in Bayern 1945 – 1950 unter besonderer Berücksichtigung des Landkreises Wasserburg a. Inn. Arbeit des 1. Preisträgers des wissenschaftlichen Wettbewerbes local History & History of Arts der Stadt Wasserburg am Inn, 2016. Der Beitrag ist im Angebot Siegerarbeiten des Städtischen Geschichtswettbewerbs digital verfügbar. Hier gelangen Sie direkt zum Digitalisat.
  2. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 2006, 30–31./ Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, 2009, 25./ Andreas Wirsching, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 2011, 87.
  3. Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 2), 26.
  4. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, 2005, 196.
  5. Hans Schlange-Schöninngen (Hg.), Im Schatten des Hungers. Dokumentarisches zur Ernährungspolitik und Ernährungswirtschaft in den Jahren 1945-1949, bearb. v. Justus Rohrbach, 1955, 23.
  6. Rainer Gries, Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, 1991, 21–28./ Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953, 1990, 36–40.
  7. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 195.
  8. Brief des Bayerischen Ministerpräsidenten Fritz Schäffer vom 7. Juni 1945 an den Schweizer Konsul Dr. Frei, BayHStA, Landesernährungsamt Bayern, Abt. B 41 (=Lebensmittelversorgung 1944–1945).
  9. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 196.
  10. Peter Jakob Kock/Manfred Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Manfred Treml (Hg.), Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, 2006, 391–515, hier 430.
  11. Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 411.
  12. Günter J. Trittel, Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945–1949), 1990, 216.
  13. Margot Fuchs, „Zucker, wer hat? Öl, wer kauft?“. Ernährungslage und Schwarzmarkt in München 1945–1948, in: Friedrich Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbrauch 1945–1949, 1984, 312–319, hier 313.
  14. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 236.
  15. Wolfrum, Die geglückte Demokratie (wie Anm. 2), 31.
  16. Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 81.
  17. Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 95.
  18. Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 430.