Ernährungslage: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Historisches Lexikon Wasserburg
Zur Navigation springen Zur Suche springen
 
(Eine dazwischenliegende Version von einem anderen Benutzer wird nicht angezeigt)
Zeile 20: Zeile 20:
 
In den unmittelbaren Nachkriegsmonaten war die Situation auch in Wasserburg katastrophal. Nach einem Monatsbericht der amerikanischen Militärregierung im Kreis Wasserburg wurden zwischen dem 25. Juni und dem 22. Juli 1945 Hungerrationen von gerade einmal 654 Kalorien pro Tag ausgegeben.<ref>Monthly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn November 1945, undatiert, Institut für Zeitgeschichte (IfZ), RG 260, 10/78-2/5 (=Annual, Quarterly and Monthly Historical Reports of Det. E-283 Wasserburg a. Inn).</ref> Dieser Wert steigerte sich im nächsten Monat auf immer noch völlig unzureichende 947 Tageskalorien. Erst ab November besserte sich die Lage. Als Folge der Mangelernährung im letzten Kriegsjahr und der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte die Militärregierung in ihrem Jahresbericht 1945 einen deutlichen Gewichtsverlust und einen generell schlechten Gesundheitszustand bei der Wasserburger Bevölkerung fest.<ref>Annual Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1945–1946, 30.6.1946, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.</ref> Im Verlaufe des Jahres 1946 besserte sich die Situation. Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg war wesentlich entspannter als beispielsweise in München. Wenn etwas fehlte, waren es vor allem minder wichtige Erzeugnisse wie Marmelade, Fruchtsäfte oder Zucker. Ein Grund dafür ist sicherlich der hohe Anteil an Selbstversorgern im agrarisch geprägten Landkreis Wasserburg a. Inn. Von 54.000 im Landkreis lebenden Personen waren im August 1946 23.000 als Selbstversorger eingestuft.<ref>Brief des Landrats von Wasserburg a. Inn vom 29.8.1946 an den Regierungspräsidenten in München, StAM, Ernährungsämter B 365 (=Allgemeiner Schriftwechsel des Ernährungsamtes Abt. B mit dem Landrat (Berichte über die Ernährungslage) und sonstigen Dienststellen 1945–1950).</ref> Diese Quote an Selbstversorgern übertrifft den Anteil an  der gesamtdeutschen (14%) und auch an der bayerischen (25%) Bevölkerung deutlich. Demnach war auch die amerikanische Militärregierung der Ansicht, dass die Wasserburger Bevölkerung keinen Grund habe, sich über die Ernährungslage zu beschweren.<ref>Quarterly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1.10.1946 – 31.12.1946, undatiert, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.</ref> Doch konnten eben nicht alle Wasserburger der Gruppe der Landwirte und ihrer Angehörigen zugerechnet werden. Vor allem die Kinder der Normalverbraucher hatten unter der Unterernährung zu leiden. Im April des Katastrophenjahres 1947 verschärfte sich die Situation in Wasserburg genauso wie in ganz Bayern dramatisch. Im Mai erhielt der erwachsene Normalverbraucher nur noch fünf Kilogramm Brot, das waren pro Tag gerade einmal 167 Gramm. Zudem konnten in der nächsten Zuteilungsperiode auch die festgesetzten Rationssätze für Kartoffeln nicht ausgegeben werden.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 20.6.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 365.</ref> Dies war insofern höchst problematisch, als Brot und Kartoffeln die beiden hauptsächlichen Kalorienträger waren. Die Verzweiflung der besorgten und entkräfteten Wasserburger Bevölkerung zeigt sich in zahlreichen Schreiben an das Ernährungsamt. So wandte sich ein Bürger im Juni 1947 mit der Bitte an das Ernährungsamt, ihm eine Bezugsquelle für Kartoffeln bekannt zu geben:
 
In den unmittelbaren Nachkriegsmonaten war die Situation auch in Wasserburg katastrophal. Nach einem Monatsbericht der amerikanischen Militärregierung im Kreis Wasserburg wurden zwischen dem 25. Juni und dem 22. Juli 1945 Hungerrationen von gerade einmal 654 Kalorien pro Tag ausgegeben.<ref>Monthly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn November 1945, undatiert, Institut für Zeitgeschichte (IfZ), RG 260, 10/78-2/5 (=Annual, Quarterly and Monthly Historical Reports of Det. E-283 Wasserburg a. Inn).</ref> Dieser Wert steigerte sich im nächsten Monat auf immer noch völlig unzureichende 947 Tageskalorien. Erst ab November besserte sich die Lage. Als Folge der Mangelernährung im letzten Kriegsjahr und der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte die Militärregierung in ihrem Jahresbericht 1945 einen deutlichen Gewichtsverlust und einen generell schlechten Gesundheitszustand bei der Wasserburger Bevölkerung fest.<ref>Annual Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1945–1946, 30.6.1946, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.</ref> Im Verlaufe des Jahres 1946 besserte sich die Situation. Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg war wesentlich entspannter als beispielsweise in München. Wenn etwas fehlte, waren es vor allem minder wichtige Erzeugnisse wie Marmelade, Fruchtsäfte oder Zucker. Ein Grund dafür ist sicherlich der hohe Anteil an Selbstversorgern im agrarisch geprägten Landkreis Wasserburg a. Inn. Von 54.000 im Landkreis lebenden Personen waren im August 1946 23.000 als Selbstversorger eingestuft.<ref>Brief des Landrats von Wasserburg a. Inn vom 29.8.1946 an den Regierungspräsidenten in München, StAM, Ernährungsämter B 365 (=Allgemeiner Schriftwechsel des Ernährungsamtes Abt. B mit dem Landrat (Berichte über die Ernährungslage) und sonstigen Dienststellen 1945–1950).</ref> Diese Quote an Selbstversorgern übertrifft den Anteil an  der gesamtdeutschen (14%) und auch an der bayerischen (25%) Bevölkerung deutlich. Demnach war auch die amerikanische Militärregierung der Ansicht, dass die Wasserburger Bevölkerung keinen Grund habe, sich über die Ernährungslage zu beschweren.<ref>Quarterly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1.10.1946 – 31.12.1946, undatiert, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.</ref> Doch konnten eben nicht alle Wasserburger der Gruppe der Landwirte und ihrer Angehörigen zugerechnet werden. Vor allem die Kinder der Normalverbraucher hatten unter der Unterernährung zu leiden. Im April des Katastrophenjahres 1947 verschärfte sich die Situation in Wasserburg genauso wie in ganz Bayern dramatisch. Im Mai erhielt der erwachsene Normalverbraucher nur noch fünf Kilogramm Brot, das waren pro Tag gerade einmal 167 Gramm. Zudem konnten in der nächsten Zuteilungsperiode auch die festgesetzten Rationssätze für Kartoffeln nicht ausgegeben werden.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 20.6.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 365.</ref> Dies war insofern höchst problematisch, als Brot und Kartoffeln die beiden hauptsächlichen Kalorienträger waren. Die Verzweiflung der besorgten und entkräfteten Wasserburger Bevölkerung zeigt sich in zahlreichen Schreiben an das Ernährungsamt. So wandte sich ein Bürger im Juni 1947 mit der Bitte an das Ernährungsamt, ihm eine Bezugsquelle für Kartoffeln bekannt zu geben:
  
''Wissen die Herren vom Ernährungsamt, was das für eine Frau heisst, wenn sie für 6 Personen kochen soll und keine Kartoffeln hat? Der Kartoffelvorrat bei uns dürfte nur noch für wenige Tage reichen und was dann? Dabei sind doch die anderen Zuteilungen an Brot, Fett, Nährmittel udgl. so gering, dass man ein Hungerkünstler sein muss, um davon leben zu können.''<ref>Brief von Karl Gottwald vom 16.6.1947 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 343 (=Zuteilung von Lebensmittelkarten an Kranke, Flüchtlingslager usw.; Ordnungsstrafen wegen Schwarzschlachtungen u.a. (alphabetisch nach Namen) 1945–1949).</ref>
+
''Wissen die Herren vom Ernährungsamt, was das für eine Frau heisst, wenn sie für 6 Personen kochen soll und keine Kartoffeln hat? Der Kartoffelvorrat bei uns dürfte nur noch für wenige Tage reichen und was dann? Dabei sind doch die anderen Zuteilungen an Brot, Fett, Nährmittel udgl. so gering, dass man ein Hungerkünstler sein muss, um davon leben zu können.''<ref>Brief von Karl Gottwald vom 16.6.1947 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 343 (=Zuteilung von Lebensmittelkarten an Kranke, Flüchtlingslager usw.; Ordnungsstrafen wegen Schwarzschlachtungen u.a. (alphabetisch nach Namen) 1945–1949).</ref>
  
 
Die Antwort des Ernährungsamtes fiel für den betroffenen Wasserburger und seine Familie ernüchternd aus: Zwar habe man sich für ihn bemüht, doch musste man feststellen, dass bei Erfassungsbetrieben und Verteilern keine Kartoffeln mehr vorhanden waren. Die Lage auf dem Kartoffelmarkt in Wasserburg sei gegenwärtig katastrophal.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 2.7.1947 an Karl Gottwald, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.</ref> Dank einer frühzeitigen Kartoffelernte besserte sich die Ernährungslage im Landkreis im September 1947.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 22.9.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 365.</ref> Nach der Währungsreform ging es in Stadt und Landkreis Wasserburg wirtschaftlich und ernährungsmäßig aufwärts.
 
Die Antwort des Ernährungsamtes fiel für den betroffenen Wasserburger und seine Familie ernüchternd aus: Zwar habe man sich für ihn bemüht, doch musste man feststellen, dass bei Erfassungsbetrieben und Verteilern keine Kartoffeln mehr vorhanden waren. Die Lage auf dem Kartoffelmarkt in Wasserburg sei gegenwärtig katastrophal.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 2.7.1947 an Karl Gottwald, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.</ref> Dank einer frühzeitigen Kartoffelernte besserte sich die Ernährungslage im Landkreis im September 1947.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 22.9.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 365.</ref> Nach der Währungsreform ging es in Stadt und Landkreis Wasserburg wirtschaftlich und ernährungsmäßig aufwärts.
Zeile 32: Zeile 32:
 
War die Versorgung und Unterbringung der DPs und Evakuierten vor dem Hintergrund der Ernährungslage und der Wohnungsknappheit schon ein großes Problem, verschärfte sich die Situation mit Fluchtbewegung aus den deutschen Ostgebieten weiter. Die meisten der mehr als zwölf Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen kamen durch die organisierte Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei im Jahre 1946 in Westdeutschland an.<ref>Spindler, Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 37), 742.</ref> Bis September 1947 stieg der Anteil der Flüchtlinge im Kreis Wasserburg auf 25% an.<ref>Quarterly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1.7.1947–30.9.1947, 17.9.1947, IfZ, RG 260, 10/78-3/1 (=Annual, Quarterly and Monthly Historical Reports of Det. E-283 Wasserburg a. Inn).</ref> Durch den Zuzug der Flüchtlinge, Evakuierten und DPs zerbrach die traditionelle dörfliche Sozialstruktur und die ländliche Abgeschlossenheit löste sich auf. Zwischenzeitlich betrug der Anteil der Ortsfremden im Landkreis Wasserburg knapp 35%.<ref>Monthly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn October 1946, undatiert, IfZ, RG 260, 10/78-3/1.</ref> Die Situation der Flüchtlinge war äußerst schwierig. Unter ihnen befanden sich viele Frauen, Kinder sowie alte und kranke Menschen. Insofern waren Flüchtlinge in besonderem Maße von der Nachkriegsarbeitslosigkeit betroffen. Die Ernährungslage war für die Flüchtlinge mindestens genauso prekär, wie für die einheimischen Normalverbraucher. Ein im Kreis Wasserburg untergekommener Flüchtling sah die Einheimischen in einem Versorgungsvorteil gegenüber den Flüchtlingen, denn
 
War die Versorgung und Unterbringung der DPs und Evakuierten vor dem Hintergrund der Ernährungslage und der Wohnungsknappheit schon ein großes Problem, verschärfte sich die Situation mit Fluchtbewegung aus den deutschen Ostgebieten weiter. Die meisten der mehr als zwölf Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen kamen durch die organisierte Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei im Jahre 1946 in Westdeutschland an.<ref>Spindler, Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 37), 742.</ref> Bis September 1947 stieg der Anteil der Flüchtlinge im Kreis Wasserburg auf 25% an.<ref>Quarterly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1.7.1947–30.9.1947, 17.9.1947, IfZ, RG 260, 10/78-3/1 (=Annual, Quarterly and Monthly Historical Reports of Det. E-283 Wasserburg a. Inn).</ref> Durch den Zuzug der Flüchtlinge, Evakuierten und DPs zerbrach die traditionelle dörfliche Sozialstruktur und die ländliche Abgeschlossenheit löste sich auf. Zwischenzeitlich betrug der Anteil der Ortsfremden im Landkreis Wasserburg knapp 35%.<ref>Monthly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn October 1946, undatiert, IfZ, RG 260, 10/78-3/1.</ref> Die Situation der Flüchtlinge war äußerst schwierig. Unter ihnen befanden sich viele Frauen, Kinder sowie alte und kranke Menschen. Insofern waren Flüchtlinge in besonderem Maße von der Nachkriegsarbeitslosigkeit betroffen. Die Ernährungslage war für die Flüchtlinge mindestens genauso prekär, wie für die einheimischen Normalverbraucher. Ein im Kreis Wasserburg untergekommener Flüchtling sah die Einheimischen in einem Versorgungsvorteil gegenüber den Flüchtlingen, denn
  
''die Einheimischen können sich von der Not, in der die meisten Flüchtlinge leben, gar keine Vorstellung machen, denn die Flüchtlinge haben weder Geld, um etwas auf dem ‚schwarzen Markt‘ kaufen zu können, noch haben sie irgendwelche Sachen wie Wäsche, Kleidung, Haushaltsgegenstände, die sie [zu] Bauern zum Umtausch gegen Lebensmittel tragen können, noch haben sie die ‚guten Beziehungen‘ bei Verwandten und Bekannten, die etwas an Lebensmitteln einträglich sind.''<ref>Brief von Karl Gottwald vom 16.6.1947 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.</ref>  
+
''die Einheimischen können sich von der Not, in der die meisten Flüchtlinge leben, gar keine Vorstellung machen, denn die Flüchtlinge haben weder Geld, um etwas auf dem ‚schwarzen Markt‘ kaufen zu können, noch haben sie irgendwelche Sachen wie Wäsche, Kleidung, Haushaltsgegenstände, die sie [zu] Bauern zum Umtausch gegen Lebensmittel tragen können, noch haben sie die ‚guten Beziehungen‘ bei Verwandten und Bekannten, die etwas an Lebensmitteln einträglich sind.''<ref>Brief von Karl Gottwald vom 16.6.1947 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.</ref>  
  
 
== Illegale Zusatzversorgung ==
 
== Illegale Zusatzversorgung ==
Zeile 38: Zeile 38:
 
Neben dem offiziellen ernährungswirtschaftlichen Verteilungssystem gab es ein zweites, illegales Kompensationssystem, dem Maßnahmen wie Schwarzmarkthandel, Diebstähle, Fälschung von Lebensmittelmarken und Hamstern zuzurechnen sind. Ein großer Teil der Normalverbraucher war auf die illegale Zusatzversorgung angewiesen, um überleben zu können. Der Schwarzhandel war offiziell verboten, doch beteiligte sich beinahe jeder daran. Im Herbst 1947 schätzte ein leitender Beamter der bizonalen Ernährungsverwaltung, dass 95% der Bevölkerung der Bizone direkt oder indirekt mit dem Schwarzmarkt in Berührung kamen.<ref>Mörchen, Schwarzer Markt (wie Anm. 36), 60.</ref> Unter Schwarzmarkt oder Schwarzhandel wurde der Handel außerhalb der Bewirtschaftungs-, Versorgungs- und Preisbestimmungen verstanden.<ref>Fuchs, Ernährungslage und Schwarzmarkt in München (wie Anm. 13), 316.</ref> Letztlich wurde die Kleinkriminalität der einfachen Bevölkerung mehr oder weniger geduldet. Dagegen versuchte man massiv gegen die im Hintergrund agierenden Berufsschwarzhändler vorzugehen. Wenn in den Unterlagen des Wasserburger Ernährungsamtes von Schwarzmarkt die Rede ist, dann werden die meist die Juden des DP-Lagers Gabersee als Verantwortliche genannt. Auch der von vielen Selbstversorgern begangene Tatbestand der Schwarzschlachtung war ein Problem. Bei regelmäßigen Viehzählungen mussten die Bauern ihr Vieh anmelden. Das Schlachten war nur erlaubt, wenn ein entsprechender Schlachtantrag genehmigt worden war. Durch Schwarzschlachtungen wollten die Bauern den Beschlagnahmungen zuvorkommen und das Fleisch gewinnbringend verkaufen bzw. gegen Gebrauchsgegenstände eintauschen.
 
Neben dem offiziellen ernährungswirtschaftlichen Verteilungssystem gab es ein zweites, illegales Kompensationssystem, dem Maßnahmen wie Schwarzmarkthandel, Diebstähle, Fälschung von Lebensmittelmarken und Hamstern zuzurechnen sind. Ein großer Teil der Normalverbraucher war auf die illegale Zusatzversorgung angewiesen, um überleben zu können. Der Schwarzhandel war offiziell verboten, doch beteiligte sich beinahe jeder daran. Im Herbst 1947 schätzte ein leitender Beamter der bizonalen Ernährungsverwaltung, dass 95% der Bevölkerung der Bizone direkt oder indirekt mit dem Schwarzmarkt in Berührung kamen.<ref>Mörchen, Schwarzer Markt (wie Anm. 36), 60.</ref> Unter Schwarzmarkt oder Schwarzhandel wurde der Handel außerhalb der Bewirtschaftungs-, Versorgungs- und Preisbestimmungen verstanden.<ref>Fuchs, Ernährungslage und Schwarzmarkt in München (wie Anm. 13), 316.</ref> Letztlich wurde die Kleinkriminalität der einfachen Bevölkerung mehr oder weniger geduldet. Dagegen versuchte man massiv gegen die im Hintergrund agierenden Berufsschwarzhändler vorzugehen. Wenn in den Unterlagen des Wasserburger Ernährungsamtes von Schwarzmarkt die Rede ist, dann werden die meist die Juden des DP-Lagers Gabersee als Verantwortliche genannt. Auch der von vielen Selbstversorgern begangene Tatbestand der Schwarzschlachtung war ein Problem. Bei regelmäßigen Viehzählungen mussten die Bauern ihr Vieh anmelden. Das Schlachten war nur erlaubt, wenn ein entsprechender Schlachtantrag genehmigt worden war. Durch Schwarzschlachtungen wollten die Bauern den Beschlagnahmungen zuvorkommen und das Fleisch gewinnbringend verkaufen bzw. gegen Gebrauchsgegenstände eintauschen.
  
Neben den Schwarzmarktaktivitäten gab es auch andere Formen der illegalen Zusatzversorgung wie Hamstern, Eigentumsdelikte, Lebensmittelkartenfälschung oder das Erschleichen von Zusatzkarten. Der Begriff Hamstern wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem für das massenhaft auftretende Phänomen verwendet, sich bei Bauern auf dem Land durch Betteln oder den Tausch von Gebrauchsgegenständen Nahrungsmittel zu beschaffen. Da die Lebensmittel auf diese Weise ohne Bezugsberechtigung in den Besitz genommen wurden, war Hamstern ein Verstoß gegen die Verordnung.<ref>Vgl. dazu: Ordnungsstrafen wegen Verstoßes gegen die Verbrauchsregelungs-Strafverordnung (Hamstern von Lebensmitteln u.a.), alphabetisch nach Beschuldigten 1943–1949, StAM, Ernährungsämter Abt. B 362–364.</ref> Hamsterfahrten aufs Land wurden vor allem von der großstädtischen Bevölkerung getätigt.<ref>Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 222.</ref> Die Bekämpfung des sogenannten ‚Hamstererunwesens‘ erwies sich allerdings als ähnlich erfolglos wie die des Schwarzmarktes. Bald konzentrierte sich die Polizei darauf, das Hamstern größerer Mengen Ware zu unterbinden, wohingegen das Hamstern weniger Lebensmittel durch arme Bevölkerungskreise nicht geahndet wurde.<ref>Brief des Präsidiums der Landpolizei von Bayern vom 17.4.1947 an alle Chefdienststellen, alle Schulen, Leiter des Schulwesens, Vizepräsidenten, StAM, Polizeipräsidium Oberbayern 607 (=Bekämpfung des Schwarzhandels (Generalakt) 1948).</ref> Auch die Eigentumsdelikte nahmen in der Nachkriegszeit dramatisch zu. Diese waren eng mit dem Schwarzhandel verbunden, denn Diebesgut war eine der wichtigsten Quellen des Schwarzen Marktes.<ref>Mörchen, Schwarzer Markt (wie Anm. 36), 59.</ref> Ein Großteil der Eigentumsdelikte lässt sich der Versorgungskriminalität zurechnen, etwa wenn Lebensmittel oder Kohle zum Eigenverbrauch oder zum Verkauf bzw. Tausch auf dem Schwarzmarkt geklaut wurden. Einbrüche in Ernährungsämter, Kartenausgabestellen und Druckereien waren allgegenwärtig, da Aufwand und Risiko im Verhältnis zum möglichen Gewinn sehr gering waren.<ref>Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 282.</ref> Eine weitere Maßnahme zur illegalen Zusatzversorgung war die Fälschung von Lebensmittelkarten. Bei Stichproben wurde festgestellt, dass bis zu 90% der für bestimmte Waren abgelieferten Marken gefälscht waren. In der Regel druckten die Markenfälscher nicht die ganze Karte nach, sondern nur einzelne, besonders wertvolle Abschnitte von Mangelwaren.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 19.6.1947 an die Stadtpolizei Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 365.</ref> Weit verbreitet war überdies das Erschleichen von Zusatzkarten. So versuchten sich z.B. Mütter Zusatzrationen zu erschwindeln, indem sie vorgaben Kinder zu stillen.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 8.10.1947 an alle Hebammen des Landkreises Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.</ref>
+
Neben den Schwarzmarktaktivitäten gab es auch andere Formen der illegalen Zusatzversorgung wie Hamstern, Eigentumsdelikte, Lebensmittelkartenfälschung oder das Erschleichen von Zusatzkarten. Der Begriff Hamstern wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem für das massenhaft auftretende Phänomen verwendet, sich bei Bauern auf dem Land durch Betteln oder den Tausch von Gebrauchsgegenständen Nahrungsmittel zu beschaffen. Da die Lebensmittel auf diese Weise ohne Bezugsberechtigung in den Besitz genommen wurden, war Hamstern ein Verstoß gegen die Verordnung.<ref>Vgl. dazu: Ordnungsstrafen wegen Verstoßes gegen die Verbrauchsregelungs-Strafverordnung (Hamstern von Lebensmitteln u.a.), alphabetisch nach Beschuldigten 1943–1949, StAM, Ernährungsämter Abt. B 362–364.</ref> Hamsterfahrten aufs Land wurden vor allem von der großstädtischen Bevölkerung getätigt.<ref>Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 222.</ref> Die Bekämpfung des sogenannten ‚Hamstererunwesens‘ erwies sich allerdings als ähnlich erfolglos wie die des Schwarzmarktes. Bald konzentrierte sich die Polizei darauf, das Hamstern größerer Mengen Ware zu unterbinden, wohingegen das Hamstern weniger Lebensmittel durch arme Bevölkerungskreise nicht geahndet wurde.<ref>Brief des Präsidiums der Landpolizei von Bayern vom 17.4.1947 an alle Chefdienststellen, alle Schulen, Leiter des Schulwesens, Vizepräsidenten, StAM, Polizeipräsidium Oberbayern 607 (=Bekämpfung des Schwarzhandels (Generalakt) 1948).</ref> Auch die Eigentumsdelikte nahmen in der Nachkriegszeit dramatisch zu. Diese waren eng mit dem Schwarzhandel verbunden, denn Diebesgut war eine der wichtigsten Quellen des Schwarzen Marktes.<ref>Mörchen, Schwarzer Markt (wie Anm. 36), 59.</ref> Ein Großteil der Eigentumsdelikte lässt sich der Versorgungskriminalität zurechnen, etwa wenn Lebensmittel oder Kohle zum Eigenverbrauch oder zum Verkauf bzw. Tausch auf dem Schwarzmarkt gestohlen wurden. Einbrüche in Ernährungsämter, Kartenausgabestellen und Druckereien waren allgegenwärtig, da Aufwand und Risiko im Verhältnis zum möglichen Gewinn sehr gering waren.<ref>Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 282.</ref> Eine weitere Maßnahme zur illegalen Zusatzversorgung war die Fälschung von Lebensmittelkarten. Bei Stichproben wurde festgestellt, dass bis zu 90% der für bestimmte Waren abgelieferten Marken gefälscht waren. In der Regel druckten die Markenfälscher nicht die ganze Karte nach, sondern nur einzelne, besonders wertvolle Abschnitte von Mangelwaren.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 19.6.1947 an die Stadtpolizei Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 365.</ref> Weit verbreitet war überdies das Erschleichen von Zusatzkarten. So versuchten sich z.B. Mütter Zusatzrationen zu erschwindeln, indem sie vorgaben Kinder zu stillen.<ref>Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 8.10.1947 an alle Hebammen des Landkreises Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.</ref>
  
 
== Bürokratische Erfahrung ==
 
== Bürokratische Erfahrung ==

Aktuelle Version vom 31. März 2019, 18:14 Uhr

Autor: Manuel Schwanse

Die Versorgungskrise und die Hungererfahrungen der Wasserburger Bevölkerung (1945 – 1950)

Einführung

Die Menschen sorgten sich in den ersten Nachkriegsjahren vor allem um die Herausforderungen des Alltags.[1] Die Probleme des täglichen Überlebens, wozu neben Hunger auch Wohnungsnot, Mangel an Kohle, Wasser und Elektrizität und andere Entbehrungen gehörten, wurden zu einer prägenden und kollektiven Grunderfahrung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung.[2] Die Ernährungskrise kam nach dem Krieg und den damit verbundenen Menschenverlusten, Zerstörungen und Vertreibungen obendrein noch dazu. In ländlich geprägten Gebieten wie Wasserburg a. Inn war die Versorgungslage besser als in den großstädtischen Ballungszentren.[3] Je urbanisierter eine Region war, desto schlechter war dort in der Nachkriegszeit die Ernährungslage. Typische Hungererfahrungen und Verhaltensweisen der Menschen in der Nachkriegszeit zeigten sich jedoch unabhängig von der Schärfe der Ernährungskrise.

Das Bewirtschaftungs- und Rationierungssystem

Bereits Ende August 1939 hatten die Nationalsozialisten ein komplexes Rationierungssystem eingerichtet und kurz vor dem Überfall auf Polen wurden die ersten Lebensmittelkarten ausgegeben.[4] Das gut durchdachte Rationierungssystem wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als gerecht empfunden und funktionierte fast bis zum letzten Kriegstag. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 brach das Ernährungs- und Versorgungssystem in Deutschland vollends zusammen. Als die Importe aus den besetzten Gebieten nach Kriegsende stoppten und zudem die landwirtschaftlichen Überschussgebiete östlich von Oder und Neiße verloren gingen, nahm die Hungerkrise ihren Lauf.[5] Im Bereich der Versorgungsverwaltung griff man im Wesentlichen auf die Strukturen des von den Nationalsozialisten aufgebauten Versorgungssystems zurück.[6] Die Ernährungswirtschaft wurde zwischen 1939 und 1950 von zwei Säulen getragen: Dem Bewirtschaftungssystem, welches die Landwirtschaft reglementierte und dem Rationierungssystem, das die Verbraucher mit Lebensmitteln versorgte. Dabei wurden Lebensmittel mit Hilfe von Bezugsscheinen aufs Gramm genau an die Menschen verteilt. Innerhalb der ‚Rationen-Gesellschaft‘ der Nachkriegszeit kann eine Differenzierung vorgenommen werden: So gab es die Selbstversorger, deren Anteil in ländlichen Regionen wie dem Landkreis Wasserburg a. Inn größer war als beispielsweise in München und die in der Regel den besten Lebensstandard hatten, da sie dem staatlichen Zuteilungssystem nicht unmittelbar unterworfen waren. Innerhalb der schlechter versorgten Gruppe der Normalverbraucher gab es eine Altersstaffelung. Das komplexe Verteilungssystem wurde durch Zulagekarten für bestimmte Gruppen weiter ausdifferenziert: Arbeiter, Kranke, Alte und Schwerbeschädigte, werdende und stillende Mütter, politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge erhielten Lebensmittelzulagen.[7]

Die Hungerkrise in Bayern und Deutschland

Die Versorgungslage in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reiches‘ war katastrophal. Im Juni 1945 wurden in Bayern an Normalverbraucher 1.043 Kalorien pro Tag ausgegeben.[8] Zwar versprachen Amerikaner und Briten dem Länderrat im Dezember 1945, 1.550 Kalorien sicherzustellen[9], doch konnte dieser Kaloriensatz nicht eingehalten werden. So wurden zum Beispiel in München im Sommer 1946 920 Kalorien pro Kopf verteilt.[10] In der US-Zone musste der Normalverbraucher mit einer durchschnittlichen Tagesration von einem halben Teelöffel Zucker, einem fingernagelgroßen Stück Fett, Fleisch in der Größe eines Radiergummis, zwei Kartoffeln, einer Prise Kaffee-Ersatz und einem Schluck Magermilch auskommen.[11] Noch schlimmer stellte sich die Ernährungslage im Ruhrgebiet oder auch in Leipzig dar, wo bisweilen ‚Friedhofsrationen‘ um 800 Kalorien pro Tag verteilt wurden.[12] Ein amerikanischer Arzt empfahl in einem Gutachten ein tägliches Nahrungssoll von 2.600 Kalorien für den erwachsenen Normalverbraucher.[13] Dieser Wert wurde in München und anderen deutschen Großstädten nie erreicht. Den Höhepunkt der Hungerkrise stellte das Jahr 1947 dar.[14] Verantwortlich dafür war vor allem der Winter 1946/1947, der als einer der härtesten des gesamten Jahrhunderts gilt, bereits Mitte Dezember einsetzte und bis März 1947 andauerte.[15] Konrad Adenauer schrieb am 10. Dezember 1946 in einem Privatbrief: Ich hoffe, daß der größte Teil des deutschen Volkes diesen Winter übersteht. Aber die Verhältnisse sind sehr ernst und sehr traurig…[16]. Zwischen April und Juni 1947 wurden in fast allen Teilen der Bizone nur zwischen 850 und 1.050 Kalorien pro Tag ausgegeben.[17] Wegen der katastrophalen Ernährungslage kam es im Mai 1947 in mehreren bayerischen Betrieben zu Hungerstreiks.[18] Zu allem Überfluss folgte auf den Jahrhundertwinter ein Jahrhundertsommer. Der August 1947 galt als trockenster Monat der vergangenen hundert Jahre.[19] Der Frust der Bevölkerung über die anhaltende Versorgungskrise entlud sich im Frühjahr 1948 in einer neuen Streik- und Protestwelle, die praktisch die ganze Bizone umfasste. So befanden sich in Bayern am 22. und 23. Januar 1948 etwa eine Million Arbeiter im Generalstreik.[20] 1948/1949 besserten sich die Ernährungslage und die Agrarproduktion. Verantwortlich dafür waren der Marshallplan, die Währungsreform und die günstige Witterung.[21] Konnten im Juni 1948 noch 1.535 Tageskalorien ausgegeben werden, waren es im September immerhin 1.845 und im Mai 1949 gar 2.350.[22] In den Monaten nach der Währungsreform wurden die Bewirtschaftungsvorschriften langsam gelockert und einige Lebensmittel von der rationierten Verteilung befreit. Im Frühsommer 1949 konnte ein großer Teil der Lebensmittel frei und ohne Marken gekauft werden. Das vor dem Hintergrund der ökonomischen Entwicklung nicht mehr zeitgemäße Bewirtschaftungssystem wurde von der Marktwirtschaft abgelöst. Am 30. April 1950 endete in der Bundesrepublik Deutschland nach elf Jahren endgültig das Rationierungssystem.

Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg a. Inn

In den unmittelbaren Nachkriegsmonaten war die Situation auch in Wasserburg katastrophal. Nach einem Monatsbericht der amerikanischen Militärregierung im Kreis Wasserburg wurden zwischen dem 25. Juni und dem 22. Juli 1945 Hungerrationen von gerade einmal 654 Kalorien pro Tag ausgegeben.[23] Dieser Wert steigerte sich im nächsten Monat auf immer noch völlig unzureichende 947 Tageskalorien. Erst ab November besserte sich die Lage. Als Folge der Mangelernährung im letzten Kriegsjahr und der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte die Militärregierung in ihrem Jahresbericht 1945 einen deutlichen Gewichtsverlust und einen generell schlechten Gesundheitszustand bei der Wasserburger Bevölkerung fest.[24] Im Verlaufe des Jahres 1946 besserte sich die Situation. Die Ernährungslage im Landkreis Wasserburg war wesentlich entspannter als beispielsweise in München. Wenn etwas fehlte, waren es vor allem minder wichtige Erzeugnisse wie Marmelade, Fruchtsäfte oder Zucker. Ein Grund dafür ist sicherlich der hohe Anteil an Selbstversorgern im agrarisch geprägten Landkreis Wasserburg a. Inn. Von 54.000 im Landkreis lebenden Personen waren im August 1946 23.000 als Selbstversorger eingestuft.[25] Diese Quote an Selbstversorgern übertrifft den Anteil an der gesamtdeutschen (14%) und auch an der bayerischen (25%) Bevölkerung deutlich. Demnach war auch die amerikanische Militärregierung der Ansicht, dass die Wasserburger Bevölkerung keinen Grund habe, sich über die Ernährungslage zu beschweren.[26] Doch konnten eben nicht alle Wasserburger der Gruppe der Landwirte und ihrer Angehörigen zugerechnet werden. Vor allem die Kinder der Normalverbraucher hatten unter der Unterernährung zu leiden. Im April des Katastrophenjahres 1947 verschärfte sich die Situation in Wasserburg genauso wie in ganz Bayern dramatisch. Im Mai erhielt der erwachsene Normalverbraucher nur noch fünf Kilogramm Brot, das waren pro Tag gerade einmal 167 Gramm. Zudem konnten in der nächsten Zuteilungsperiode auch die festgesetzten Rationssätze für Kartoffeln nicht ausgegeben werden.[27] Dies war insofern höchst problematisch, als Brot und Kartoffeln die beiden hauptsächlichen Kalorienträger waren. Die Verzweiflung der besorgten und entkräfteten Wasserburger Bevölkerung zeigt sich in zahlreichen Schreiben an das Ernährungsamt. So wandte sich ein Bürger im Juni 1947 mit der Bitte an das Ernährungsamt, ihm eine Bezugsquelle für Kartoffeln bekannt zu geben:

Wissen die Herren vom Ernährungsamt, was das für eine Frau heisst, wenn sie für 6 Personen kochen soll und keine Kartoffeln hat? Der Kartoffelvorrat bei uns dürfte nur noch für wenige Tage reichen und was dann? Dabei sind doch die anderen Zuteilungen an Brot, Fett, Nährmittel udgl. so gering, dass man ein Hungerkünstler sein muss, um davon leben zu können.[28]

Die Antwort des Ernährungsamtes fiel für den betroffenen Wasserburger und seine Familie ernüchternd aus: Zwar habe man sich für ihn bemüht, doch musste man feststellen, dass bei Erfassungsbetrieben und Verteilern keine Kartoffeln mehr vorhanden waren. Die Lage auf dem Kartoffelmarkt in Wasserburg sei gegenwärtig katastrophal.[29] Dank einer frühzeitigen Kartoffelernte besserte sich die Ernährungslage im Landkreis im September 1947.[30] Nach der Währungsreform ging es in Stadt und Landkreis Wasserburg wirtschaftlich und ernährungsmäßig aufwärts.

Die Versorgung der Fremden

Wenn man in der Nachkriegszeit von ‚Fremden‘ spricht, geht es in der Regel um drei Gruppen von Personen: Die ‚Displaced Persons‘, die Evakuierten und die Flüchtlinge/Vertriebenen. Als ‚Displaced Persons‘ werden ausländische Fremdarbeiter und Zwangsverschleppte bezeichnet, die sich als Hinterlassenschaft der NS-Herrschaft im Zweiten Weltkrieg nach Kriegsende noch in deutschen Gebieten aufhielten.[31] Die meisten von ihnen kamen aus osteuropäischen Ländern. Im August 1945 waren in Westdeutschland über sechs Millionen DPs. Auch in Wasserburg lebten in den Lagern Gabersee und Attel viele DPs.[32] Im Oktober 1945 waren insgesamt 3.572 DPs einquartiert.[33] Auf Anordnung der Militärregierung sollten DPs und ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge eine Verpflegung in Höhe von 2.000 Tageskalorien erhalten. Zweck der Sonderverpflegung war, die begünstigten Personen für die während der NS-Herrschaft erduldeten Ernährungserschwerungen zu entschädigen. Die einheimische Bevölkerung fühlte sich massiv benachteiligt. So bekamen die in Lagern untergebrachten DPs im Juli 1945 mit 2.027 Kalorien einen mehr als doppelt so hohen Nährwert wie der durchschnittliche deutsche Normalverbraucher (1.020 Kalorien).[34] Vorfälle wie im DP-Lager in Schongau, wo Lebensmittel weggeschmissen wurden, zwangen die einheimische Bevölkerung zu der Feststellung, daß die den Ausländern zugebilligten Rationssätze zu reichlich bemessen sind.[35] Problematisch für das Verhältnis von Einheimischen und DPs war, dass Letztere nicht nur einen besseren Lebensstandard hatten, sondern sich auch – so zumindest wird es in den Quellen behauptet – massiv am Schwarzmarkt beteiligten. Möglicherweise gab es auf deutscher Seite eine rassistisch und antisemitisch geprägte Realitätswahrnehmung, die den Anteil der deutschen Bevölkerung am Schwarzmarkt und anderen Straftaten herunterspielte oder unterschlug.[36] Die Beteiligung der DPs am Schwarzmarkt wurde vermutlich durch Gerüchte über das tatsächliche Maß hinaus aufgebauscht.[37]

Mehrere Millionen Deutsche mussten während des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verlassen, um der Zerstörung ihrer Wohnungen und Städte durch die Bombenangriffe der Alliierten zu entgehen. Nach Ende des Krieges saßen die meisten Evakuierten erst einmal in ihren Notquartieren fest. Alleine in Bayern waren es kurz vor Kriegsende beinahe eine Million ‚Entwurzelte‘ und im Juni 1945 noch rund 700.000.[38] Gerade in den ländlichen Gebieten Oberbayerns wurden besonders viele Heimatlose und Entwurzelte untergebracht. Im Oktober 1945 lebten 9.025 Evakuierte im Landkreis Wasserburg.[39] Das waren zu diesem Zeitpunkt etwa 18% der Gesamtbevölkerung. Angesichts dieser großen Zahl von Menschen stellte die Ernährung neben der Wohnraumknappheit das größte Problem dar. Da die Evakuierten anders als die ‚Displaced Persons‘ keine Sonderzuteilungen an Lebensmitteln erhielten, mussten sie mit den Normalverbraucherrationen auskommen. Da diese kaum zum Überleben ausreichten, waren die Evakuierten ebenso wie weite Teile der einheimischen Bevölkerung auf eine illegale Zusatzversorgung angewiesen. Neben der Ernährungs- und Wohnungskrise war es vor allem die unterschiedliche ländliche und bei Evakuierten und Flüchtlingen meist städtische Prägung, die zu schweren Konflikten zwischen Einheimischen und Fremden führte.[40] Hinzu kam eine generelle Angst vor Überfremdung sowie ein ‚Preußenhass‘. Die Abneigung gegen ‚Preußen‘ hatte in Bayern eine lange Tradition, die durch die Versorgungsproblematik aufs Neue angefacht wurde.[41] Auch im Landkreis Wasserburg a. Inn war der ‚Preußenhass‘ laut Quellen offensichtlich. So wurden Flüchtlinge am Bahnhof mit einem ‚Preußen sind hier nicht willkommen‘ Schriftzug empfangen.[42]

War die Versorgung und Unterbringung der DPs und Evakuierten vor dem Hintergrund der Ernährungslage und der Wohnungsknappheit schon ein großes Problem, verschärfte sich die Situation mit Fluchtbewegung aus den deutschen Ostgebieten weiter. Die meisten der mehr als zwölf Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen kamen durch die organisierte Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei im Jahre 1946 in Westdeutschland an.[43] Bis September 1947 stieg der Anteil der Flüchtlinge im Kreis Wasserburg auf 25% an.[44] Durch den Zuzug der Flüchtlinge, Evakuierten und DPs zerbrach die traditionelle dörfliche Sozialstruktur und die ländliche Abgeschlossenheit löste sich auf. Zwischenzeitlich betrug der Anteil der Ortsfremden im Landkreis Wasserburg knapp 35%.[45] Die Situation der Flüchtlinge war äußerst schwierig. Unter ihnen befanden sich viele Frauen, Kinder sowie alte und kranke Menschen. Insofern waren Flüchtlinge in besonderem Maße von der Nachkriegsarbeitslosigkeit betroffen. Die Ernährungslage war für die Flüchtlinge mindestens genauso prekär, wie für die einheimischen Normalverbraucher. Ein im Kreis Wasserburg untergekommener Flüchtling sah die Einheimischen in einem Versorgungsvorteil gegenüber den Flüchtlingen, denn

die Einheimischen können sich von der Not, in der die meisten Flüchtlinge leben, gar keine Vorstellung machen, denn die Flüchtlinge haben weder Geld, um etwas auf dem ‚schwarzen Markt‘ kaufen zu können, noch haben sie irgendwelche Sachen wie Wäsche, Kleidung, Haushaltsgegenstände, die sie [zu] Bauern zum Umtausch gegen Lebensmittel tragen können, noch haben sie die ‚guten Beziehungen‘ bei Verwandten und Bekannten, die etwas an Lebensmitteln einträglich sind.[46] 

Illegale Zusatzversorgung

Neben dem offiziellen ernährungswirtschaftlichen Verteilungssystem gab es ein zweites, illegales Kompensationssystem, dem Maßnahmen wie Schwarzmarkthandel, Diebstähle, Fälschung von Lebensmittelmarken und Hamstern zuzurechnen sind. Ein großer Teil der Normalverbraucher war auf die illegale Zusatzversorgung angewiesen, um überleben zu können. Der Schwarzhandel war offiziell verboten, doch beteiligte sich beinahe jeder daran. Im Herbst 1947 schätzte ein leitender Beamter der bizonalen Ernährungsverwaltung, dass 95% der Bevölkerung der Bizone direkt oder indirekt mit dem Schwarzmarkt in Berührung kamen.[47] Unter Schwarzmarkt oder Schwarzhandel wurde der Handel außerhalb der Bewirtschaftungs-, Versorgungs- und Preisbestimmungen verstanden.[48] Letztlich wurde die Kleinkriminalität der einfachen Bevölkerung mehr oder weniger geduldet. Dagegen versuchte man massiv gegen die im Hintergrund agierenden Berufsschwarzhändler vorzugehen. Wenn in den Unterlagen des Wasserburger Ernährungsamtes von Schwarzmarkt die Rede ist, dann werden die meist die Juden des DP-Lagers Gabersee als Verantwortliche genannt. Auch der von vielen Selbstversorgern begangene Tatbestand der Schwarzschlachtung war ein Problem. Bei regelmäßigen Viehzählungen mussten die Bauern ihr Vieh anmelden. Das Schlachten war nur erlaubt, wenn ein entsprechender Schlachtantrag genehmigt worden war. Durch Schwarzschlachtungen wollten die Bauern den Beschlagnahmungen zuvorkommen und das Fleisch gewinnbringend verkaufen bzw. gegen Gebrauchsgegenstände eintauschen.

Neben den Schwarzmarktaktivitäten gab es auch andere Formen der illegalen Zusatzversorgung wie Hamstern, Eigentumsdelikte, Lebensmittelkartenfälschung oder das Erschleichen von Zusatzkarten. Der Begriff Hamstern wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem für das massenhaft auftretende Phänomen verwendet, sich bei Bauern auf dem Land durch Betteln oder den Tausch von Gebrauchsgegenständen Nahrungsmittel zu beschaffen. Da die Lebensmittel auf diese Weise ohne Bezugsberechtigung in den Besitz genommen wurden, war Hamstern ein Verstoß gegen die Verordnung.[49] Hamsterfahrten aufs Land wurden vor allem von der großstädtischen Bevölkerung getätigt.[50] Die Bekämpfung des sogenannten ‚Hamstererunwesens‘ erwies sich allerdings als ähnlich erfolglos wie die des Schwarzmarktes. Bald konzentrierte sich die Polizei darauf, das Hamstern größerer Mengen Ware zu unterbinden, wohingegen das Hamstern weniger Lebensmittel durch arme Bevölkerungskreise nicht geahndet wurde.[51] Auch die Eigentumsdelikte nahmen in der Nachkriegszeit dramatisch zu. Diese waren eng mit dem Schwarzhandel verbunden, denn Diebesgut war eine der wichtigsten Quellen des Schwarzen Marktes.[52] Ein Großteil der Eigentumsdelikte lässt sich der Versorgungskriminalität zurechnen, etwa wenn Lebensmittel oder Kohle zum Eigenverbrauch oder zum Verkauf bzw. Tausch auf dem Schwarzmarkt gestohlen wurden. Einbrüche in Ernährungsämter, Kartenausgabestellen und Druckereien waren allgegenwärtig, da Aufwand und Risiko im Verhältnis zum möglichen Gewinn sehr gering waren.[53] Eine weitere Maßnahme zur illegalen Zusatzversorgung war die Fälschung von Lebensmittelkarten. Bei Stichproben wurde festgestellt, dass bis zu 90% der für bestimmte Waren abgelieferten Marken gefälscht waren. In der Regel druckten die Markenfälscher nicht die ganze Karte nach, sondern nur einzelne, besonders wertvolle Abschnitte von Mangelwaren.[54] Weit verbreitet war überdies das Erschleichen von Zusatzkarten. So versuchten sich z.B. Mütter Zusatzrationen zu erschwindeln, indem sie vorgaben Kinder zu stillen.[55]

Bürokratische Erfahrung

Der Bürokratismus war eine weitere prägende Erfahrung der Nachkriegszeit. Sehr deutlich wird sie in der Korrespondenz der Ernährungsämter mit der Bevölkerung. Die Beamten wurden von den Bürgern häufig für die eigene Unterversorgung verantwortlich gemacht. Daher waren die Bediensteten der Ernährungsämter ganz besonders von der insgesamt sehr gereizten Stimmung dieser Zeit betroffen. Im Februar 1948 bat ein Bürger aus dem Landkreis Wasserburg a. Inn den Leiter des Ernährungsamtes Abt. B, acht Abschnitte für Fische der Krankenzulagekarte seiner elfjährigen Tochter gegen Eier oder ähnliches mit gleichem Kalorienwert umzutauschen. Dies war nötig, da die Tochter keine Fische vertrug. Der Bürger fügte zudem an, dass wir durch zweimaliges Ausbomben in München alles verloren [haben] und ganz auf uns selbst gestellt sind.[56] Die Reaktion des Ernährungsamtes fiel lapidar aus: Ein Umtausch der Fischmarken [ist] nur für die Krankheitsgruppe 9/1 […] möglich.[57] Die Tochter gehörte zur Krankheitsgruppe 9/2. Die Angestellten der Ernährungsämter standen vor dem ständigen Dilemma, dass sie zwar für die Bevölkerung da sein sollten, gleichzeitig aber zur genauen Einhaltung der Vorschriften angehalten waren. Dies war auch insofern problematisch, als sie relativ große Machtbefugnisse besaßen und bei der Vergabe der Lebensmittelkarten fast über Leben und Tod entscheiden konnten.[58] Zahlreiche Wasserburger versuchten in ihrem Elend und ihrer Verzweiflung die eigenen Forderungen mithilfe von Drohungen durchzusetzen. So wurde beispielsweise damit gedroht, den Fall im Oberbayerischen Volksblatt zu veröffentlichen oder die übergeordnete Behörde einzuschalten. Der Leiter des Wasserburger Ernährungsamtes ließ sich allerdings nicht jede Anschuldigung gefallen: In Ihrem Schreiben vom 28.1.1946 führen Sie zweimal das Wort ‚Unterschlagung‘ an. Diese unbegründete, wie unverschämte Anschuldigung weise ich auf das Schärfste […] zurück, im Wiederholungsfalle werde ich ein gerichtliches Verfahren gegen Sie einleiten.[59]

Vergleichsmentalität

In Zeiten von Not, Elend und Hoffnungslosigkeit dachten die Menschen zuerst an sich, einen Zusammenhalt gab es kaum.[60] Einheit und Solidarität brachten im Gegensatz zu Egoismus und der Beteiligung am Schwarzmarkt keine Vorteile. Versorgungsdruck und Versorgungsneid zeigten sich in den allgegenwärtigen Vorwürfen, die eigene Zone, das eigene Land, die Heimatstadt oder die eigene Familie seien schlecht versorgt und würden benachteiligt.[61] Eine immer wieder in den Quellen auftauchende Ebene des Versorgungsneides ist die zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung. Eigentlich könnte man meinen, die Bevölkerung des Landkreises Wasserburg a. Inn hätten keinen Grund gehabt, sich gegenüber den Stadtbewohnern benachteiligt zu fühlen, war die Versorgungslage auf dem Land doch meist besser als in den Großstädten. Doch gibt es in den Quellen eindeutige Belege dafür, dass sich auch die Landbevölkerung gegenüber den Städtern im Nachteil sah. Im Kreis Wasserburg gab es massive Beschwerden darüber, dass nur Städte mit 20.000 Einwohnern zusätzliche Lebensmittellieferungen erhielten.[62] Ein evakuierter Landbewohner aus dem Kreis Wasserburg beklagte sich, dass die Stadtbewohner, wie man tägl. sehen kann, mit […] Säcken u. Waschkörben aufs Land hinauskommen u. das Obst zentnerweise holen. Die Städter seien dann doppelt versorgt, weil sie ja auf die Obst- u. Gemüsekarte auch noch welches erhalten, während wir auf dem Lande das Nachsehen haben.[63] Aber auch zwischen Angehörigen des gleichen Milieus kam es zu einer Polarisierung. In den Akten des Wasserburger Ernährungsamtes finden sich zahlreiche Beschwerden über den angeblich unstatthaften Empfang von Zulagekarten durch den ‚Mann oder die Frau von nebenan‘. So finden sich in den Quellen viele Beschwerden, dass die Nachbarin die Zusatzkarte für stillende Mütter bezieht, obwohl sie das Kind gar nicht stillt. Vorstellbar ist durchaus, dass persönliche Beweggründe in Zeiten der Not zur Denunziation von unliebsamen Mitbürgern führten.

Kampf gegen Hunger und Elend: Die Arbeiterwohlfahrt Wasserburg a. Inn

Zahlreiche Hilfsorganisationen versuchten in der Nachkriegszeit die Not der Menschen zu lindern. Von den ausländischen Hilfsorganisationen ist CARE[64] bis heute die bekannteste. Die private amerikanische Nichtregierungsorganisation schickte in der Nachkriegszeit ca. zehn Millionen CARE-Pakete nach Deutschland. Humanitäre Auslandshilfe für Deutschland[65] leisteten auch andere Länder wie etwa die Schweiz und Organisationen wie die Quäker, die Schulspeisungen veranlassten. Zur Linderung der Not trugen ferner die katholische Kirche und vor allem der Deutsche Caritasverband bei. In Wasserburg a. Inn kümmerte sich der Ortsverein der Arbeiterwohlfahrt intensiv um Bedürftige. Besonders engagiert kümmerte sich die Wohlfahrtsorganisation um Kriegsgefangene bzw. Heimkehrer. So wurden Kriegsgefangene bei Entlassungsanträgen beraten und deren Angehörige betreut. Die Hilfe wurde jedoch nicht mit der Heimkehr aus der Gefangenschaft eingestellt: Die Arbeiterwohlfahrt will sich der Ärmsten annehmen, die dieser grausame Krieg auf die Straße des Elends getrieben hat: der aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen ehemaligen deutschen Soldaten. […] Wir wollen helfen und wir werden helfen! Mit sauberem Quartier, in dem sich die Verlassenen erst einmal von den Strapazen erholen können. Mit einem mehrwöchigen, guten Essen, das sie wieder zu Kräften kommen läßt, mit menschenwürdigen Kleidungsstücken und einer individuellen sofortigen Arbeitsvermittlung.[66] Um dies zu finanzieren, lief im August 1947 in ganz Bayern unter dem Motto ‚Wir müssen den Heimkehrern helfen!‘ eine große Spendensammlung. Bedürftigen Müttern ermöglichte und finanzierte der Arbeiterwohlfahrt Ortsverein Wasserburg a. Inn einen Aufenthalt im Müttererholungsheim Ammerland.[67] Eine weitere Gruppe von Bedürftigen waren die Kinder, vor allem Waisen, Kriegsversehrte, Flüchtlings- und Arbeiterkinder. So führte die Arbeiterwohlfahrt zusammen mit den freien Gewerkschaften zu Weihnachten 1946 eine Kinderbescherung durch.[68] Außerdem wurden die Schulspeisungskosten für die Kinder von bedürftigen Familien übernommen.[69] An arme Rentnerinnen und Rentner der Stadt Wasserburg a. Inn wurden ebenfalls zu Weihnachten 1946 insgesamt 70 Zentner Kohle verteilt, was angesichts des Jahrhundertwinters 1946/47 eine lebensrettende Maßnahme gewesen sein dürfe. Überdies wurden Flüchtlinge und Vertriebene unterstützt.


Empfohlene Zitierweise:
Manuel Schwanse, Ernährungslage, publiziert am 31.03.2019 [=Tag der letzten Änderung(en) an dieser Seite]; in: Historisches Lexikon Wasserburg, URL: https://www.historisches-lexikon-wasserburg.de/Ern%C3%A4hrungslage (29.04.2024)


  1. Dieser Beitrag fußt auf Manuel Schwanse, Die Ernährungslage in Bayern 1945 – 1950 unter besonderer Berücksichtigung des Landkreises Wasserburg a. Inn. Arbeit des 1. Preisträgers des wissenschaftlichen Wettbewerbes local History & History of Arts der Stadt Wasserburg am Inn, 2016. Der Beitrag ist im Angebot Siegerarbeiten des Städtischen Geschichtswettbewerbs digital verfügbar. Hier gelangen Sie direkt zum Digitalisat.
  2. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 2006, 30–31./ Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, 2009, 25./ Andreas Wirsching, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 2011, 87.
  3. Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 2), 26.
  4. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, 2005, 196.
  5. Hans Schlange-Schöninngen (Hg.), Im Schatten des Hungers. Dokumentarisches zur Ernährungspolitik und Ernährungswirtschaft in den Jahren 1945-1949, bearb. v. Justus Rohrbach, 1955, 23.
  6. Rainer Gries, Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, 1991, 21–28./ Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953, 1990, 36–40.
  7. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 195.
  8. Brief des Bayerischen Ministerpräsidenten Fritz Schäffer vom 7. Juni 1945 an den Schweizer Konsul Dr. Frei, BayHStA, Landesernährungsamt Bayern, Abt. B 41 (=Lebensmittelversorgung 1944–1945).
  9. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 196.
  10. Peter Jakob Kock/Manfred Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Manfred Treml (Hg.), Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, 2006, 391–515, hier 430.
  11. Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 411.
  12. Günter J. Trittel, Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945–1949), 1990, 216.
  13. Margot Fuchs, „Zucker, wer hat? Öl, wer kauft?“. Ernährungslage und Schwarzmarkt in München 1945–1948, in: Friedrich Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbrauch 1945–1949, 1984, 312–319, hier 313.
  14. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 236.
  15. Wolfrum, Die geglückte Demokratie (wie Anm. 2), 31.
  16. Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 81.
  17. Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 95.
  18. Kock/Treml, Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 10), 430.
  19. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 179.
  20. Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 158.
  21. Schlange-Schöningen, Im Schatten des Hungers (wie Anm. 5), 186–187.
  22. Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 185–186.
  23. Monthly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn November 1945, undatiert, Institut für Zeitgeschichte (IfZ), RG 260, 10/78-2/5 (=Annual, Quarterly and Monthly Historical Reports of Det. E-283 Wasserburg a. Inn).
  24. Annual Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1945–1946, 30.6.1946, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.
  25. Brief des Landrats von Wasserburg a. Inn vom 29.8.1946 an den Regierungspräsidenten in München, StAM, Ernährungsämter B 365 (=Allgemeiner Schriftwechsel des Ernährungsamtes Abt. B mit dem Landrat (Berichte über die Ernährungslage) und sonstigen Dienststellen 1945–1950).
  26. Quarterly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1.10.1946 – 31.12.1946, undatiert, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.
  27. Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 20.6.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 365.
  28. Brief von Karl Gottwald vom 16.6.1947 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter B 343 (=Zuteilung von Lebensmittelkarten an Kranke, Flüchtlingslager usw.; Ordnungsstrafen wegen Schwarzschlachtungen u.a. (alphabetisch nach Namen) 1945–1949).
  29. Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 2.7.1947 an Karl Gottwald, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  30. Brief des Ernährungsamtes Abt. Wasserburg a. Inn vom 22.9.1947 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 365.
  31. Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, 1985, 15.
  32. Vgl. Jim G. Tobias/Nicole Grom, Gabersee und Attel. Wartesäle zur Emigration: Die jüdischen Displaced Persons Camps in Wasserburg 1946–50, 2016.
  33. Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 19.10.1945 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  34. Entschließung des Amtes für Ernährung und Landwirtschaft in Bayern Abt. B vom 11.7.1945, BayHStA, Landesernährungsamt Bayern, Abt. B 54 (=Verpflegung für Ausländer und ehemalige KZ-Häftlinge 1945–1946).
  35. Brief des Landrats von Schongau vom 10.10.1945 an das Amt für Ernährung und Landwirtschaft in Bayern Abt. B, BayHStA, Landesernährungsamt Bayern Abt. B 54.
  36. Jacobmeyer, Displaced Persons in Westdeutschland (wie Anm. 31), 46–50./ Stefan Mörchen, „Echte Kriminelle“ und „zeitbedingte Rechtsbrecher“. Schwarzer Markt und Konstruktionen des Kriminellen in der Nachkriegszeit, in: Werkstatt Geschichte 42 (2006), 57–76, hier 65.
  37. Max Spindler (Begr.), Handbuch der bayerischen Geschichte. Vierter Band: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Staat und Politik, neu herausgegeben von Alois Schmid. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, 2003, 756.
  38. Katja Klee, Im „Luftschutzkeller des Reiches“. Evakuierte in Bayern 1939–1953: Politik, soziale Lage, Erfahrungen, 1999, 12.
  39. Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 19.10.1945 an den Landrat von Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  40. Spindler, Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 37), 743.
  41. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 232.
  42. Annual Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1945–1946, 30.6.1946, IfZ, RG 260, 10/78-2/5.
  43. Spindler, Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 37), 742.
  44. Quarterly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn 1.7.1947–30.9.1947, 17.9.1947, IfZ, RG 260, 10/78-3/1 (=Annual, Quarterly and Monthly Historical Reports of Det. E-283 Wasserburg a. Inn).
  45. Monthly Historical Report Landkreis Wasserburg a. Inn October 1946, undatiert, IfZ, RG 260, 10/78-3/1.
  46. Brief von Karl Gottwald vom 16.6.1947 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  47. Mörchen, Schwarzer Markt (wie Anm. 36), 60.
  48. Fuchs, Ernährungslage und Schwarzmarkt in München (wie Anm. 13), 316.
  49. Vgl. dazu: Ordnungsstrafen wegen Verstoßes gegen die Verbrauchsregelungs-Strafverordnung (Hamstern von Lebensmitteln u.a.), alphabetisch nach Beschuldigten 1943–1949, StAM, Ernährungsämter Abt. B 362–364.
  50. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 222.
  51. Brief des Präsidiums der Landpolizei von Bayern vom 17.4.1947 an alle Chefdienststellen, alle Schulen, Leiter des Schulwesens, Vizepräsidenten, StAM, Polizeipräsidium Oberbayern 607 (=Bekämpfung des Schwarzhandels (Generalakt) 1948).
  52. Mörchen, Schwarzer Markt (wie Anm. 36), 59.
  53. Trittel, Hunger und Politik (wie Anm. 12), 282.
  54. Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 19.6.1947 an die Stadtpolizei Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 365.
  55. Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 8.10.1947 an alle Hebammen des Landkreises Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  56. Brief von Rudolf Bart vom 28.2.1948 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  57. Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasserburg a. Inn vom 10.3.1948 an Rudolf Bart, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  58. Dierk Hoffmann, Nachkriegszeit. Deutschland 1945–1949, 2011, 68.
  59. Brief des Ernährungsamtes Abt. B Wasseburg a. Inn vom 22.2.1946 an Mina Reiter, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  60. Wolfrum, Die geglückte Demokratie (wie Anm. 2), 33./ Paul Erker, Solidarität und Selbsthilfe. Die Arbeiterschaft in der Ernährungskrise, in: Wolfgang Benz (Hg.), Neuanfang in Bayern 1945–1949. Politik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit, 82–102, hier 82.
  61. Gries, Die Rationen-Gesellschaft (wie Anm. 6), 15.
  62. Monthly Historical Report Wirtschaftsamt Wasserburg a. Inn September 1946, 30.9.1946, StAM, Wirtschaftsämter 157 (=Monatsberichte in englischer Sprache 1946).
  63. Brief von Johann Mairle vom 23.9.1946 an das Ernährungsamt Abt. B Wasserburg a. Inn, StAM, Ernährungsämter Abt. B 343.
  64. Vgl. Karl-Ludwig Sommer, Die CARE-Pakete im Nachkriegsdeutschland – historische Grundlagen einer legendären Hilfsaktion, in: Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte 19 (2007), 35–48./ Volker Ilgen, CARE-Paket & Co. Von der Liebesgabe zum Westpaket, 2008.
  65. Vgl. Hans-Josef Wollasch, Humanitäre Auslandshilfe für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Darstellung und Dokumentation kirchlicher und nichtkirchlicher Hilfen, 1976.
  66. Brief des Arbeiterwohlfahrt Landesverbands Bayern vom 15.8.1947 an die Ortsausschüsse, Ortsvereine, Kreisverbände, Bezirksverbände, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1278 (=Rechnungsjahr 1947 des Arbeiterwohlfahrt Ortsvereins Wasserburg a. Inn 1946–1948).
  67. Brief des Arbeiterwohlfahrt Bezirksverbands Oberbayern vom 21.7.1947 an alle Kreisverbände, Ortsvereine, Ortsausschüsse, Bezirksvorstandsmitglieder, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1278.
  68. Vgl. Verteilung von Hilfsgütern 1946–1949, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1275.
  69. Vgl. Spendenverteilung des Arbeiterwohlfahrts Ortsvereins Wasserburg a. Inn 1947–1948, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1282.