Tuchraub

Aus Historisches Lexikon Wasserburg
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Autor: Christoph Gampert

Der Fall des Tuchhändlers Martin Schrag aus dem 15. Jahrhundert – Tuchraub, Veme und Reichsgericht

Einführung

Kaiser Friedrich III. (1415-1493), nach einem verlorenen Original von 1468.

Bereits im Wasserburger Wochenblatt vom 24. Mai 1857[1] sowie in einem Artikel des Wasserburger Stadtarchivars Kaspar Brunhuber[2] wird der Fall des beraubten Tuchhändlers Martin Schrag und dessen Klage vor westfälischen Gerichten erwähnt. Doch es dauerte bis zu Verzeichnungsarbeiten am Bestand Altes Archiv der Stadt Wasserburg im Jahr 2015 bis das zu diesem Fall gehörende Urkundenkonvolut wieder ans Licht kam. Unabhängig von dem Fall an sich, über dessen kriminalistische und juristische Bedeutung (oder Spannung) man geteilter Meinung sein kann, ist der Einblick in die spätmittelalterliche Rechtsprechung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation von großer Bedeutung. Die westfälischen Vemegerichte, eine zu Unrecht unterschätzte Form der spätmittelalterlichen Rechtspflege, spielen hier eine große Rolle, aber auch Kaiser Friedrich III. selbst tritt in den in Wasserburg überlieferten Urkunden in Aktion. Es war also höchste Zeit, sich mit diesem interessanten Gerichtsfall zu beschäftigen.

Der Urkundenbestand

Siegel von König Friedrich III..

Eine Reihe von Urkunden aus den Jahren 1441-1450 behandeln einen Streitfall zwischen dem Tuchhändler Martin Schrag aus Eichstätt und der Stadt Wasserburg.[3] Darunter befinden sich auch Urkunden mit dem königlichen Siegel Friedrichs III. (reg. 1440-1493), ausgestellt in den Residenzen Wien und Wiener Neustadt, was in einem Kommunalarchiv, erst recht in einer kleinen bayerischen Landstadt, seltene Funde sind. Da neben der Stadt Wasserburg auch die Herrschaft Ettlingen von Schrag beklagt wurde, sind Urkunden teilweise doppelt erhalten (z.T. als Vidimus, d.h. als beglaubigte Abschrift), da diese sowohl für Wasserburg als auch Ettlingen ausgestellt wurden. Fast alle Urkunden sind in deutscher Sprache verfasst, zwei sind sowohl in Deutsch als auch in Latein gehalten. Eine parallele Überlieferung in Akten oder Chroniken ist nach derzeitigem Stand nicht bekannt. Allerdings ist der Fall auch durch das Königliche Gerichtsbuch des Michael von Pfullendorf sowie durch Editionen belegt.[4]

Die Veme[5]

Zur Veme ist mittlerweile ein reichhaltiger, v.a. rechtshistorischer, Literaturbefund entstanden. Dabei ist sowohl die ältere[6] als auch die jüngere Literatur[7] heranzuziehen, da sich nur aus der Gesamtschau ein annähernd vollständiges Bild der Veme ergibt. Einen guten ersten Zugriff bietet das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), das auch online (kostenpflichtig) zugänglich ist. Für weitergehendes Interesse wird ein Blick in die Spezialliteratur empfohlen.

Die westfälische Vemegerichtsbarkeit ist im Zusammenhang mit der königlichen Friedenswahrung im Spätmittelalter zu sehen[8] und im Laufe des 13. Jahrhundert entstanden.[9] Sie ist als landrechtliche Entsprechung der Reichsacht sowie als genossenschaftlicher Zusammenschluss zur Wahrung des Rechts und Landfriedens einzuordnen. Die genaue Entwicklung ist unklar, muss jedoch nach dem Sturz Herzog Heinrichs des Löwen 1180 eingesetzt haben. Trotz der Belehnung des Kölner Erzbischofs mit Westfalen war die königliche Gerichtsbarkeit bei den Grafengerichten verblieben. Diese wurden nicht in die landesherrliche Gerichtsorganisation eingegliedert, sondern bewahrten sich ihre Bindung an das Königtum.[10]Als Königsbanngericht seien die westfälischen Freigerichte von Anfang an königlich legitimiert gewesen.[11] Allerdings habe der Kölner Erzbischof als Herzog von Westfalen eine gewisse Oberherrschaft über die Vemegerichte durchsetzen können.[12]

Eine aktuelle Überblicksdarstellung bietet Eberhard Fricke in seinem gleichnamigen Artikel im Historischen Lexikon Bayerns. Demnach waren die beiden wichtigsten Kennzeichen der Veme strikte Geheimhaltung und die Verhängung der Todesstrafe, welche aber nur selten vollstreckt worden sei. Diese ursprünglich westfälische Einrichtung entfaltete ab dem 14. Jahrhundert überregionale Wirkung, bevor sie ab der Mitte des 15. Jahrhunderts von den römisch-deutschen Kaisern eingeschränkt wurde und schließlich verschwand.[13] Im Spätmittelalter, v.a. unter den Königen Ruprecht und Sigismund (1. Hälfte 15. Jh.) sei sie jedoch die wirksamste Gerichtsorganisation im gesamten Heiligen Römischen Reich gewesen, die sich für das gesamte Reichsgebiet zuständig gefühlt habe und auch so wahrgenommen worden sei.[14] Allerdings habe der Widerstand von Städten und Territorien gegen die Veme seit dem frühen 15. Jahrhundert zugenommen, was einherging mit der Ausbildung der territorialstaatlichen Gerichtsverfassung. Mit dem Ewigen Landfrieden und der Einrichtung des Reichskammergerichts 1495 sei die Feme auf Reichsebene zunehmend entbehrlich geworden.[15] Fricke sieht in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Veme eine Institution zur Wahrung des rechtlichen und sozialen Friedens, die den Königsgedanken mentalgeschichtlich bis in die unteren Schichten der Bevölkerung vermittelt habe.[16]

Eine weitere gute Definition der Vemegerichte bietet der westfälische Landeshistoriker und Archivar Wilhelm Janssen in der Einleitung zur Neuauflage des Werks von Theodor Lindner über die Veme, das, obwohl aus dem Jahr 1896 stammend, immer noch das Standardwerk[17] zu diesem Thema ist. Er versteht unter Veme

jene besondere Art der Kriminaljustiz, die die westfälischen Freigerichte im Spätmittelalter ausübten und die gekennzeichnet war: durch die Heimlichkeit des Prozesses, die auf das herkömmliche Handhaftverfahren zurückgehende rigide Einförmigkeit der Strafe (Tod durch den Strang), einen spezifischen, leicht variablen Katalog der zu ahndenden Delikte (vemewrogige Sachen) und durch den – im 15. Jahrhundert vorübergehend allgemein und förmlich anerkannten – Anspruch der unter Königsbann richtenden Femegerichte, als Königsgerichte über ihren eigenen Sprengel hinaus für das ganze Reich zuständig zu sein, und zwar für alle Fälle von Rechtsverweigerung und -verzögerung.[18] 

Auch der deutlich jüngere Artikel im HRG aus der Feder von Heiner Lück schließt sich dieser Definition an. Er nennt jedoch explizit die Freigrafen als zuständige Richter und ergänzt noch die Möglichkeit des Königs, jeden Prozess vor einem Vemegericht an sich zu ziehen. Abschließend kommt er zu dem Ergebnis, dass die Veme im Spätmittelalter die wirksamste Gerichtsorganisation im ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war.[19] Laut Fricke erweiterte sich der Katalog der vor den Vemegerichten verhandelten Straftaten im Laufe der Zeit stark. Auch weniger schwere Delikte, wie Verleumdung, üble Nachrede oder Beschimpfung seien in rascher Folge verhandelt worden.[20]

Es bleibt nun noch zu klären, was unter den Freigrafen bzw. Freigrafschaften (teilweise auch Freigerichte genannt) zu verstehen ist. Deren Charakter und Entstehung ist deutlich umstrittener als die Veme. Seit Lindners Darstellung sind heftige Diskussionen und Kontroversen entbrannt. Gerade die Frage, was unter Freien zu verstehen ist und deren Beantwortung entscheidendes Licht auf die Entstehung der Freigrafschaften werfen würde, ist bis heute ungeklärt. Fest steht allerdings, dass die Freigrafen niederadeligen oder bürgerlichen Standes waren und im Auftrag adeliger oder geistlicher Gerichtsherren, der sogenannten Stuhlherren, handelten.[21] Noch zu erwähnen ist der Begriff des Freistuhls, welcher sowohl das Vemegericht als Gerichtsinstitution als auch die konkrete örtliche Gerichtsstätte bezeichnen konnte.[22]

Wie lief nun ein Verfahren vor einem Vemegericht ab? Heiner Lück beschreibt dies in seinem Artikel im HRG anschaulich[23]: Zunächst brachte der Kläger seinen Fall vor den Freigrafen, welcher ihn prüfte und ggf. die Klage zuließ. Danach erfolgte eine schriftliche Ladung an den Beklagten bzw. eine Verwarnung , sich mit dem Kläger innerhalb einer Frist von i.d.R. 14 Tagen zu einigen.[24] Andernfalls hatte er sich vor dem Freistuhl einzufinden und dort zu verantworten. Kam es zu einer Verhandlung, erfragte der Freigraf am Ende bei den Freischöffen[25] das Urteil, das Verfemung, Freispruch oder Vertagung beinhalten konnte. Der Beklagte war meistens abwesend. Bei unentschuldigtem Fehlen konnte der Beklagte verfemt, d.h. zum Tode verurteilt, werden. Neben der Todesstrafe, die der Grund für den anfänglichen Schrecken der Veme darstellte, waren in späterer Zeit auch Geldstrafen, Schadensersatz oder Bußen und Wohlverhaltensklauseln als Urteile möglich.[26] Wollte der Beklagte den Prozess vor dem Femegericht abwenden, musste er mittels Bürgschaft mehrerer Freischöffen versprechen, sich vor einem anderen, landesherrlichen Gericht zu verantworten. Der König konnte jedoch jeden Fall vor einem Vemegericht an sich ziehen, was als Abforderung bezeichnet wurde.[27]

Der Fall

Der Sachverhalt, der verhandelt wurde, muss aus den vorhandenen Urkunden rekonstruiert werden. Am ausführlichsten dargestellt wird er in einer Urkunde des bayerischen Hofmeisters Alban Closner aus dem Jahr 1447:[28] Martin Schrag war mit seinen Waren aus Eichstätt nach Mühldorf gereist und wollte von dort elf Stück Tuch (aynlef tuech) in einem Schiff nach Wasserburg bringen lassen. Doch bei Königswart[29] im Gericht Kling wurde ihm sein Gut abgenommen, was er daraufhin dem Rat und Richter zu Wasserburg klagte. Er konnte die Täter auch identifizieren und bat darum, sie gefangen zu nehmen, was aber nicht geschah. Auch Schreiben seines Herren, des Bischofs von Eichstätt, und des bayerischen Herzogs Ludwig VII. halfen nicht. Die Stadt Wasserburg hielt sich selbst für nicht zuständig, da Schrag keinen in der Stadt wohnenden Täter nennen konnte, gegen den sie Gewalt gehabt hätte. Schrag hingegen fühlte sich wohl nicht ernst genommen und versuchte nun, die Stadt Wasserburg zur Rechenschaft zu ziehen.

Wann sich der Überfall auf Schrag exakt ereignete, lässt sich nicht genau ermitteln. Da die früheste Urkunde vom 19. Januar 1441 datiert[30] und der Inn zur damaligen Zeit im Winter sicher nicht schiffbar war, muss der Fall spätestens im Frühherbst 1440 passiert sein. Da in der Urkunde von einer Ladung der Stadt Wasserburg vor den Freistuhl von Waltrop die Rede ist und die Vemegerichte bei Rechtsverweigerung und -verzögerung zuständig waren, könnte der eigentliche Vorfall auch eine gewisse Zeit zurückliegen, denn die Mühlen der Justiz malten damals bestimmt nicht schneller als heute und die Postwege waren lang. Am wahrscheinlichsten ist es also anzunehmen, dass der Raub der Tuche bereits im Frühjahr oder Sommer des Jahres 1440 stattfand. Ein der eben erwähnten chronologisch ersten Urkunde beiliegender Zettel eines Wasserburger Archivars beschreibt den gesamten Sachverhalt kurz und verlegt ihn ebenfalls ins Jahr 1440.

Der Fall kommt im Januar 1441 mit der Ladung von Pfleger, Landschreiber, Richter, Bürgermeister, Rat und Gemeinde der Stadt und des Gerichts Wasserburg auf den 27. April 1441 vor den Freistuhl von Waltrop ins Rollen.[31] Die Stadt Wasserburg ficht diese Ladung umgehend vor König Friedrich III. an, welcher den Freigrafen anweist, in der Sache nicht zu richten, da er beide Parteien vor sich laden werde.[32] Auch der Wasserburger Kastner mit Namen Martin wandte sich wegen seiner Ladung durch Heinrich von Lynne an den König.[33] Wahrscheinlich waren auch andere städtische Amtspersonen persönlich geladen worden.

Urkunde zum Freispruch der Stadt Wasserburg von der Ladung nach Westfalen durch das königliche Kammergericht.

Es bleibt dabei unklar, ob zuvor eine Ladung vor ein Wasserburger oder ein landesherrliches Gericht erfolgt ist. In der Urkunde des Alban Closner aus dem Jahr 1447 wird berichtet, Schrag habe den Überfall bei der Stadt Wasserburg angezeigt und auch die Täter identifiziert.[34] Dagegen trägt die Stadt Wasserburg den Sachverhalt abweichend vor: Laut der Urkunde vom 29. März 1441 hätten die Stadt Wasserburg und der bayerische Herzog dem Freigrafen Heinrich von Lynne mitgeteilt, dass die Stadt immer rechtens gehandelt habe. Auch habe die Stadt eine Entscheidung in der Angelegenheit durch den bayerischen Herzog begehrt, was der Freigraf ignoriert habe.[35] In den chronologisch nächsten Urkunden vom 10. Juli 1441 beklagt sich die Stadt Wasserburg, dass Schrag sie nicht vor das eigentlich zuständige Gericht geladen habe und damit auch den bayerischen Herzog übergangen habe. Auch hätte die Stadt einen Gerichtstag angesetzt, zu dem weder Schrag noch ein Vertreter von ihm anwesend gewesen sei. Insgesamt dreimal seien weder Schrag oder ein Beauftragter erschienen, weshalb das königliche Kammergericht die Stadt Wasserburg von der Ladung nach Westfalen freisprach.[36] In einer als Appellation bezeichneten Urkunde vom 28. Februar 1442 wehrt sich die Stadt massiv gegen die Ladung vor die westfälischen Freigerichte. Sie verweist darauf, stets nach Recht und Gesetz gehandelt zu haben sowie herzoglich-bayerisches Recht wie Reichsrecht immer korrekt angewendet zu haben. Sie klagt, widerrechtlich und gegen altes Herkommen vor den heimlichen Gerichten in Westfalen belangt und dadurch geschädigt worden zu sein. Sie bittet darum, von diesen westfälischen Gerichten künftig verschont zu werden und dass deren Urteile für sie gegenstandslos seien. Stattdessen sollten Klagen vor königliche oder landesfürstliche Gerichte gebracht werden.[37] Leider geht aus der Urkunde nicht hervor, an wen sie gerichtet war. Eine schwer zu deutende Urkunde vom 17. Dezember 1441 erwähnt die Ansetzung eines Gerichtstags seitens des bayerischen Herzogs in Neuburg, um die Ladung des Freigrafen Dietrich Pliloch nach Westfalen abzuwenden.[38] Es wurde offensichtlich versucht, den Fall vor der landesherrlichen Gerichtsbarkeit entscheiden zu lassen. Vielleicht war es nach dem oben erwähnten erfolglosen städtischen Gerichtstag nun der Versuch, auf der nächsthöheren Instanz der Jurisdiktion den Sachverhalt zu verhandeln. In dieser Urkunde werden neben der Stadt Wasserburg noch diverse Personen namentlich erwähnt. Wie schon in der Ladung vom Januar 1441 ging der Freigraf nicht nur gegen die Stadt als juristische Person, sondern auch persönlich gegen diverse Amtsträger (Pfleger, Landschreiber, Richter, Bürgermeister) vor.

Die Urkunden zeigen, dass sehr wohl versucht wurde, auf städtischer wie auch auf herzoglicher Ebene den Fall zu verhandeln. Warum Martin Schrag offensichtlich weder die städtischen noch den landesherrlichen Gerichtstage wahrnahm, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. Möglicherweise war er von der Zuständigkeit der Vemegerichte so überzeugt, dass er den anderen Gerichten die Zuständigkeit absprach oder er war nach dem anfänglichen Nichthandeln Wasserburgs so enttäuscht, dass er der Stadt nun keine Gelegenheit geben wollte, diese Rechtsverweigerung durch nachholendes Handeln juristisch zu heilen. Ebenso kann nicht geklärt werden, warum in der Urkunde vom 17. Dezember 1441 ein anderer Freigraf erscheint, der in keiner anderen Urkunde wiederkehrt.

Der Freigraf Heinrich von Lynne zweifelte offensichtlich nicht an seiner Zuständigkeit und seinen Befugnissen in diesem Fall. Er ignorierte sogar die Forderung der Stadt Wasserburg aus dem März 1441, die Angelegenheit vom bayerischen Herzog entscheiden zu lassen.[39] Als Landesherr und damit auch Stadtherr von Wasserburg hätte seine Zuständigkeit nahe gelegen, alternativ auch die des Bischofs von Eichstätt, eines Reichsfürsten, dessen Untertan Martin Schrag war. Der Freigraf scheute anscheinend nicht davor zurück, seine Ansprüche auf Rechtsprechung in diesem Fall über die zweier Reichsfürsten zu stellen. Zwei Jahre später wollte mit Henrich Vyschmester ein weiterer Freigraf versuchen, in dieser Angelegenheit Recht zu sprechen.[40] Deutlicher kann die von den Vemegerichten beanspruchte reichsweite Zuständigkeit kaum demonstriert werden. Allerdings beschränkte sich diese Zuständigkeit auf Rechtsverweigerung oder -verzögerung und genau dies lag nach Martin Schrags Meinung vor, da die Stadt Wasserburg in der gegen ihn verübten Strafsache nicht tätig geworden war.

Leider lässt sich aus dem Urkundenbestand nicht klären, warum Schrag seinen Fall vor ein westfälisches Vemegerichte bzw. die genannten Freigrafen brachte. War er vor anderen Gerichten gescheitert? Wenn ja, vor welchen und wenn nein, warum zog er sofort vor die westfälischen Gerichte? Der Bericht aus der Urkunde des Alban Closner legt nahe, zu vermuten, Schrag habe zunächst vor dem Wasserburger Stadtgericht und anschließend vor einem herzoglichen Gericht (vielleicht dem Land- oder Pfleggericht Wasserburg) sein Recht gesucht. Erst als er dort abgewiesen wurde, zog er vor das Vemegericht, da er von einer Rechtsverweigerung ihm gegenüber ausging. Dem widerspricht jedoch die Darstellung der Stadt Wasserburg, Schrag sei zu dem von ihr festgesetzten Gerichtstag nicht erschienen. Solange keine Dokumente über die angenommenen Prozesse auftauchen, muss hier leider vieles Spekulation bleiben.

Bleibt noch die dem römisch-deutschen König zustehende Möglichkeit, Fälle vor den Vemegerichten an sich zu ziehen. Dies geschah bereits in der Urkunde vom 29. März 1441. König Friedrich III. befahl darin dem Freigrafen Heinrich von Lynne, die Stadt Wasserburg und Martin Schrag an ihn, den König, zu verweisen (auf einen genanten tag fur unser kuniglich maiestat wo wir dann diezeit sein werden).[41] Die nächste Urkunde vom 10. Juli 1441 spricht die Stadt Wasserburg von der Ladung des Freigrafen nach Westfalen frei, während Schrag deren Kosten dafür zu tragen habe.[42] Schrag wandte sich aber nicht nur gegen die Stadt Wasserburg, sondern u.a. auch gegen deren Kastner. Eine Urkunde von selben Tag sprach auch diesen von der Ladung des Freigrafen Heinrich von Lynne frei.[43] Aus anderen Urkunden geht hervor, dass Schrag noch weitere Personen zu belangen versuchte, z.B. den Pfleger oder den Landschreiber. Es ist somit davon auszugehen, dass diese ebenfalls von der Ladung freigesprochen wurden.

Mit den königlichen Entscheidungen von März und Juli 1441 war der Fall jedoch nicht erledigt, denn 1443 versuchte Schrag erneut, die Stadt Wasserburg vor ein westfälisches Vemegericht zu laden. Stattdessen kam es jedoch am 26. Juli 1443 zu einer Verhandlung vor dem königlichen Hofgericht unter dem Vorsitz des Bischofs von Passau. Mit Verweis auf den eben erwähnten königlichen Gerichtsbrief konnte sich die Stadt Wasserburg aber von der Ladung nach Westfalen befreien, allerdings wurde der Fall auf den nächsten Gerichtstag am 11. November 1443 vertagt.[44] Am 17. Oktober 1443 kam der Fall vor den Freigrafen von Eversberg, Heinrich Vyschmester.[45] Die Stadt Wasserburg wurde dabei von ihrem Prokurator Friedrich Harre vertreten. In der Verhandlung wurde eine Urkunde vorgelegt, wonach König Friedrich III. die Stadt Wasserburg und Martin Schrag vor das königliche Hofgericht geladen hatte. In das Urteil des Königs seien auch Forderungen des Freistuhls eingegangen. Auch auf ein früheres Urteil eines westfälischen Freigerichts wird immer wieder Bezug genommen. Leider wird weder der Inhalt dieses noch des königlichen Urteils wiedergegeben.

Danach scheint in dem Fall erstmal nichts passiert zu sein, jedenfalls liegen aus den Jahren 1444-1446 keine Urkunden vor. Im Oktober 1447 brachte Schrag den Sachverhalt, wie bereits erwähnt, vor das bayerische Hofgericht und den bayerischen Hofmeister Alban Closner. In diesem Verfahren wird festgestellt, dass derartige Strafsachen nicht in die Zuständigkeit der Stadt Wasserburg fallen und diese deshalb korrekt gehandelt habe. Der Geschädigte müsse sich stattdessen an den König wenden.[46] Das abschließende Urteil fällte schließlich auch König Friedrich III. am 20. Dezember 1449. Etwas überraschend wurde Schrag dahin gehend Recht gegeben, dass die Stadt Wasserburg die von ihm genannten Täter hätte verhaften müssen. Die Strafe fiel allerdings ausgesprochen milde aus: Die damals beteiligten und noch lebenden Ratsmitglieder mussten lediglich innerhalb von 12 Wochen und 6 Tagen in Anwesenheit des bayerischen Herzogs oder seiner Räte schwören, dass sie die Sache damals nicht absichtlich verzögert hätten (swern als recht ist das sy nit hingeschoben haben).[47] Diesem Urteil kamen die Räte am 14. März 1450 in Landshut nach, was der Pfleger von Deggendorf, Wilhalm von Aichperg urkundlich bestätigte.[48] Der Sinn dieses Urteil erschließt sich heute nur schwer. Vermutlich sollte der Schwur als Beweis dienen, dass die Wasserburger rechtmäßig gehandelt hatten, da sie sich sonst des Meineides strafbar machen würden, was im Spätmittelalter eine schwere Straftat war. Da keine späteren Dokumente zu diesem Fall im Stadtarchiv Wasserburg vorliegen, scheint sich auch Martin Schrag mit diesem Urteil und dem Schwur zufrieden gegeben zu haben. Eine materielle Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts erfolgte nicht. Die zeitlich letzte Erwähnung des Falls findet sich im königlichen Gerichtsbuch des Michael von Pfullendorf unter dem Datum 23. März 1451.[49] Allerdings wird nur ein Urteil zwischen der Stadt Wasserburg und Martin Schrag erwähnt, dieses jedoch nicht wiedergegeben, so dass dessen Inhalt unklar bleibt.

Ergebnis

Die eingangs vorgestellten Merkmale der Vemegerichtsbarkeit zeigen sich im Fall Martin Schrags geradezu exemplarisch. Es beginnt mit der Rechtsverzögerung, die Schrag der Stadt Wasserburg vorhält. Aus diesem Grund wendet er sich an die westfälischen Vemegerichte. Hier muss hervorgehoben werden, dass Schrag von dieser juristischen Möglichkeit offensichtlich Kenntnis hatte. Dies lässt darauf schließen, dass die Vemegerichte und deren Zuständigkeit im gesamten Reichsgebiet bekannt waren. Alternativ wäre davon auszugehen, dass Schrag rechtskundige Personen in seinem Umfeld besaß, die ihm zu diesem Schritt rieten, was bei einem Kaufmann durchaus anzunehmen ist, da er sicher des Öfteren Prozesse wegen z.B. säumiger Kunden führen musste. Egal für welche Variante man sich entscheidet, es bleibt festzuhalten, dass Schrag über Rechtskenntnisse verfügte oder wusste, wie er sich diese beschaffen konnte.[50] Interessant ist auch, dass er sich anscheinend nicht an den Bischof von Eichstätt oder den bayerischen Herzog wandte, sondern den Fall auf die Reichsebene hob. Welche Motive er für dieses Vorgehen hatte, bleibt leider unklar.

Als nächstes finden wir die Ladung der Stadt Wasserburg vor das westfälische Freigericht. Die Stadt versucht jedoch, sich der Ladung zu entziehen, wofür sie auch eine entsprechende Urkunde von König Friedrich III. erwirkt. Parallel wird auch versucht, eine Verhandlung auf der landesherrlichen Ebene durchzuführen. Allerdings lässt sich der zuständige Freigraf davon nicht beeindrucken. Die Argumentation der Stadt Wasserburg zielt v.a. darauf ab, selbst rechtskonform gehandelt zu haben und somit dem Vorwurf der Rechtsverweigerung und -verzögerung entgegenzutreten. Auch verweist die Stadt auf nicht wahrgenommene Gerichtstage städtischer und landesherrlicher Provenienz. Daneben zeigt sich das Recht des Königs, Fälle, die vor den Vemegerichten verhandelt werden, an sich zu ziehen, wovon Friedrich III. Gebrauch machte. Der Fall endete schließlich auch mit einem Urteil des Königs und nicht eines Freigerichts.

Urkunde des bayerischen Hofmeisters Alban Closner aus dem Jahr 1447.

Das Ergebnis des gesamten Prozesses, der sich insgesamt über mindestens neun Jahre erstreckte, dürfte für Martin Schrag jedoch eher unbefriedigend gewesen sein. Ihm gelang es nicht, eine finanzielle Entschädigung zu erhalten oder die verantwortlichen Übeltäter einer Bestrafung zuzuführen. Auch die von ihm belangte Stadt Wasserburg kam glimpflich davon.

Aus einem strafrechtlichen Prozess wurde über die Jahre ein verwaltungsrechtlicher, in dem es weniger darum ging, die für den Tuchraub verantwortlichen Täter zu ermitteln und zu bestrafen, sondern der sich vielmehr mit juristischen Zuständigkeiten und Verfahrensfehlern befasste. Wer Schrags Tuche raubte, geht aus den Urkunden nicht hervor. Vielleicht kamen die Täter aufgrund der Prozessverschleppung sogar ungeschoren davon. Zumindest müssen wir davon ausgehen, solange keine anderen Quellen zu diesem Fall bekannt werden. Doch wie repräsentativ ist der Prozess für die spätmittelalterliche Strafjustiz? Zur damaligen Zeit war Reisen ein gefährliches Abenteuer, auch wenn es schwierig ist, Literatur zum Reisen auf Wasserwegen zu finden. Straßenraub hingegen muss eine allgegenwärtige Gefahr gewesen sein. Die Lübecker Ratschronik enthält im Zeitraum 1446 bis 1482 dreißig Berichte zu diesem Thema. Für Peter Rose ein klares Indiz, dass einerseits Straßenraub eine hohe Relevanz für die Stadt Lübeck besaß und andererseits keine Lösung für dieses Problem existierte.[51] Auch Überfälle von Seeräubern auf Handelsschiffe auf der Elbe im Jahr 1480 werden erwähnt.[52] Hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf das spätmittelalterliche Phänomen des Raubritters, der sich u.a. durch Straßenraub und Überfälle auf Kaufleute auszeichnete.[53] Aus der Wasserburger Gegend sind bereits aus dem Hochmittelalter Raubritter überliefert, wenngleich unklar ist, inwiefern diese Sagengestalten einen realen Hintergrund haben.[54] Wir erhalten aber einen interessanten Einblick in das spätmittelalterliche Gerichtswesen und insbesondere in die Vemegerichte. Wir sehen, wie verschiedene Gerichte miteinander konkurrierten, da es noch keine einheitliche Reichs- oder Landesgerichtsverfassung gab. Außerdem sehen wir, wie die beiden Prozessparteien versuchten, den Fall vor ihr jeweiliges Wunschgericht zu bringen. Zu guter Letzt zeigt der Fall, dass die Wirkung bzw. Zuständigkeit der Vemegerichte nicht auf Westfalen beschränkt war, sondern sich reichsweit entfaltete. Es handelte sich bei ihnen nicht um eine regionale Besonderheit, sondern um Gerichte von reichsweiter Bedeutung, die sich bis in den tiefen Süden Bayerns hinein entfaltete.

Empfohlene Zitierweise:
Christoph Gampert, Tuchraub, publiziert am 27.10.2025 [=Tag der letzten Änderung(en) an dieser Seite]; in: Historisches Lexikon Wasserburg, URL: https://www.historisches-lexikon-wasserburg.de/Tuchraub (10.11.2025)

  1. Beiträge zur Geschichte der Innschifffahrt in besonderer Beziehung auf die Stadt Wasserburg Wasserburger Wochenblatt, 24.5.1857, 165f.
  2. Brunhuber, Wasserburg am Inn, 1.
  3. Hier und im Folgenden meint Stadt Wasserburg die Stadt als Körperschaft, also die politische Vertretung und Administration der Stadt, sprich Rat, Bürgermeister und Gemeinde sowie offizielle Beauftragte oder Vertreter der Stadt.
  4. Luger, Königliche Gerichtsbuch, 167, 190, 237, 240, 278./ Chmel, Regesta Friderici IV., Regest Nr. 302.
  5. Ich folge bei der Schreibweise der Empfehlung von Eberhard Fricke, die spätmittelterliche, legale Veme mit V zu schreiben, in Abgrenzung zur modernen Feme (Fememorde in der Weimarer Republik): Fricke, Vemegerichtsbarkeit.
  6. Hier ist insbesondere Lindner, Feme zu nennen.
  7. Beispielsweise Fricke, Feme.
  8. Krieger, König, Reich und Reichsreform, 98f.
  9. Janssen, Hömbergs Deutung, 212.
  10. Lück, Femgericht, Sp. 1535.
  11. Fricke, Feme, 37./ Janssen, Hömbergs Deutunge, 206.
  12. Janssen, Hömbergs Deutunge, 212.
  13. Fricke, Vemegerichtsbarkeit.
  14. Lück, Femgericht, Sp. 1536f.
  15. Lück, Femgericht, Sp. 1537.
  16. Fricke, Feme, 64.
  17. Einleitung zur Neuausgabe, in: Lindner, Feme, 5.
  18. Janssen, Einleitung, 8./ Fricke, Feme, 36.
  19. Lück, Femgericht.
  20. Fricke, Feme, 40f.
  21. Janssen, Einleitung, 8-9./ Willoweit, Freigrafschaft, Sp. 1741-1744.
  22. Lück, Freistuhl, Sp. 1781-1782.
  23. Lück, Femgericht, Sp. 1536.
  24. Zur Verwahrung siehe Fricke, Feme, 44.
  25. Üblicherweise sieben Freischöffen gehörten zur ordentlichen Besetzung eines Vemegerichts. Sie waren zu strenger Verschwiegenheit verpflichtet, aber auch u.a. zur Anzeige aller vemewürdigen Sachen: Lück, Freischöffe, Sp. 1777-1779.
  26. Fricke, Feme, 48f.
  27. Zur Abforderung siehe Fricke, Feme, 45f./ Zum Begriff siehe DRW, Abforderung.
  28. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1464.
  29. Heute ein Ortsteil von Soyen, damals stand dort an der Mündung des Nasenbachs in den Inn noch eine Burg mit dem gleichen Namen. http://www.museum-haag.de/forschung/fachbereiche/108-burg-koenigswart-am-inn.
  30. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1564, (1441, Januar 19).
  31. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1564, (1441, Januar 19).
  32. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1513, (1441, März 29).
  33. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a2642, (1441, März 29).
  34. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1464, (1447, Oktober 11).
  35. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1513, (1441, März 29).
  36. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1514, (1441, Juli 10). Auch die Herrschaft Ettlingen und der Wasserburger Kastner Martin wurden vom königlichen Kammergericht von der Ladung nach Westfalen freigesprochen: StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1515 und StadtA Wasserburg a. Inn, I1a2147, (1441, Juli 10).
  37. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a2641, (1442, Februar 28).
  38. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a2643, (1441, Dezmenber 17).
  39. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1513, (1441, März 29).
  40. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1473, (1443, Oktober 17).
  41. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1513, (1441, März 29).
  42. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1514, (1441, Juli 10).
  43. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a2147, (Wien 1441, Juli 10).
  44. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1467 und StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1931, (1443, Juli 26).
  45. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1473, (1443, Oktober 17).
  46. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1464, (1447, Oktober 11).
  47. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1469, (1449, Dezember 20)./ Siehe auch Luger, Königliche Gerichtsbuch, Regest Nr. 506, 167.
  48. StadtA Wasserburg a. Inn, I1a1465 (1450, März 14).
  49. Luger, Königliche Gerichtsbuch, Regest Nr. 605, 190.
  50. Fricke, Feme, 59.
  51. Rose, Straßenraub, 11.
  52. Rose, Straßenraub, 22.
  53. Andermann, Raubritter.
  54. Kirmayer, Chronik, Jahreseintrag 1228/1232.