Josef Estermann
Autor: Robert Obermayr
Biografie Josef Estermann
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Einführung
Josef Estermann war der erste von der US-Militärverwaltung eingesetzte Bürgermeister der Stadt Wasserburg am Inn nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und zudem für fast ein Jahr Landrat des Landkreises Wasserburg. In den 1920er Jahren leitete in die Ortsgruppe der kommunistischen Partei und führte in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs die Wasserburger Freiheitsaktion an. Estermann war in der Stadt als Geschäftsmann bekannt und galt als Wasserburger Original. Sein in verschiedenen Quellen gut dokumentierter Lebenslauf spiegelt das 20. Jahrhundert mit seinen Hoffnungen, Wirrungen und Katastrophen wider.
Lebensdaten
Josef Estermann * 28.12.1898 in Wasserburg am Inn, † 8.11.1982 in Wasserburg am Inn (...).
Von der Kaiserzeit zur Räterepublik
Kindheit in Wasserburg
Josef Estermann stammt aus einfachen Verhältnissen und einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus.[1] Sein Vater war der Forstarbeiter Georg Estermann, verheiratet mit Sofie Estermann, geborene Peintinger. Während beide Eltern die meiste Zeit im Wald[2] arbeiteten,erlebten Josef und seine zwei Brüder eine freie Kindheit im sogenannten Hering-Haus in der Wasserburger Neustraße.
Nach Ende der Volksschulzeit, Estermann spricht von täglichen Prügeln durch den Lehrer, schickte ihn der Vater zur Arbeit in die Landwirtschaft. Die harten Arbeitsbedingungen, den Tag a 14 Stund g’arbat, […] koan Urlaub ned und d‘Woch a Mark [3], dürften seine politische Einstellung mit geprägt haben.
Landsturmpflichtiger und Rotarmist
Noch nicht volljährig, begab sich Josef Estermann auf Wanderschaft und heuerte in Hamburg auf einem Schiff an, wohl auch, um sich dem Barras, also dem Dienst an der Waffe im mittlerweile entbrannten Ersten Weltkrieg, zu entziehen. Er soll auf See bis nach Schweden gekommen sein[4], wurde aber im Dezember 1916 in Hamburg vom Schiff runter [5] geholt und als Landsturmpflichtiger in das Infanterieregiment 76 eingezogen.[6]
Nach einer Verwundung an der Westfront in Flandern und einem Lazarettaufenthalt in Witten im Ruhrgebiet, wo er seine spätere Frau, die Lazaretthelferin Johanna Kirsten, kennenlernte, versetzte man ihn zum 7. Bayerischen Feldartillerie-Regiment. Dort diente er bis Kriegsende und soll dabei das Eiserne Kreuz erhalten haben, da er einem Offizier das Leben rettete.
Im Frühjahr 1919 landete er nach den Kriegswirren im vom revolutionären Umsturz erfassten München und schloss sich zur Verteidigung der dort errichteten Räterepublik der Roten Armee an. Nachdem die Stadt von Reichswehr und Freikorpsverbänden eingenommen wurde, geriet auch Estermann in Gefangenschaft. Seinen Schilderungen zufolge wäre er fast ein Opfer der Erschießungen geworden, die Anfang Mai 1919 nach Niederschlagung der Räterepublik im Gefängnis Stadelheim stattfanden. In einem Interview beschreibt er, wie er dem Tod nur knapp entkam, da ihn der befehligende Offizier als seinen früheren Regimentsangehörigen und tüchtigen Soldaten wiedererkannte:
Des [Erschießungs-)Kommando is hervorn g‘standen, ungefähr 9 oder 10 Mann, die haben ihr Gewehr schon geladen gehabt. Und dann geht der Offizier nochmal unsre Front ab, schaut uns allesamt an und dann geht er zu mir und sagt er: „Ja, Estermann“, sagt er, „was machst denn du da?“ Des war mein Kompanieführer, […] der Oberleutnant Metzger. […] Dann sagt er, „Geh einmal raus. Den Mann kenn ich ja gut“, sagt er, „des is ja a guter Soldat gwesen“ […]. Und ich bin dann wieder reinkommen, die andren sind umgelegt worden.[7]
Estermann erhielt dann einen Passierschein ausgestellt, mit dem er unversehrt nach Hause zurückkehren konnte.[8]
Die Weimarer Jahre: Einmal Arbeiterparadies, hin und zurück
Familiengründung in harten Zeiten und Leitung der örtlichen KPD
Zurück in Wasserburg schlug sich Estermann als Gelegenheitsarbeiter durch. Er half seinem Vater bis zu dessen frühen Tod im Mai 1922 bei der Forstarbeit im städtischen Wald und verdingte sich als Torfstecher und als Hilfsarbeiter beim Flußamt für kargen Lohn, von dem er sich in Zeiten galoppierender Inflation kaum genug zum Leben kaufen konnte. Es soll dabei auch zu kleinen Betrügereien wie dem Verkauf von gestrecktem Pfeffer oder gestohlenen Christbäumen gekommen sein.[9] Nach Phasen der Arbeitslosigkeit fand er in der damaligen Bierstadt Wasserburg schließlich eine Festanstellung in der Mälzerei der Brauerei Greinbräu. Am 27.11.1923 heiratete er in Wasserburg die aus Witten an der Ruhr stammende Krankenhelferin Johanna Kirsten, die bald eine Anstellung im städtischen Schülerheim St. Achatz fand.[10]
Das junge Paar konnte an Weihnachten 1923 ein in Eigenleistung halbweges fertiggestelltes Häuschen am Riedenerweg beziehen, auf einem Grundstück, das die Stadt Wasserburg auf Erbbaurecht an Bedürftige vergeben hatte.[11] Bald waren jedoch die Raten für den Kredit angesichts der Zinslast und dem kargen Einkommen in jenen Jahren nicht länger aufzubringen, so dass die mittlerweile dreiköpfige Familie das Haus 1926 verkaufen und in eine Mietwohnung in der Färbergasse 121 ziehen musste.[12] 1924 und 1927 wurden die beiden Söhne Karl und Rudolf geboren.
Estermann engagierte sich seit seiner Rückkehr nach Wasserburg parteipolitisch, ließ sich zunächst für die örtliche SPD anwerben sowie als Fahnenträger des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Ab Mitte der 1920er Jahre schloss er sich nach deren Gründung der Ortsgruppe der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) an, vor allem aus Enttäuschung über die Haltung der Sozialdemokraten in der Frage der Enteignung des Adels. Bald stieg er zum Kopf der rasch anwachsenden Gruppierung auf, was bei seinem Arbeitgeber auf Missfallen stieß, der ihn aber als fleißigen Arbeiter behalten wollte:
Ich war damals pol. Leiter der Ortsgruppe Wasserburg[;] wir hatten damals bald 100 Mitglieder. Meine Frau leitete die Rote Hilfe. Ich hatte beim Greinbräu eine gute Stelle in der Brauerei. Mein Chef (Hr. Hatzl) wollte mich immer entlassen wegen meiner politischen Arbeit. Aber sonderbarerweise tat er es nicht.[13]
Waffendiebstahl und Flucht in die Sowjetunion
Im November 1930 entwendete er mit weiteren Genossen Maschinengewehre aus einem heimlichen Waffendepot in einer Ziegelei im Weiler Holzmann bei Pfaffing, das vermutlich von Anhängern der NSDAP angelegt wurde.[14] Estermann, der den Fund sogleich dem KPD-Reichstagsabgeordneten Buchmann, politischer Leiter des Bezirks Südbayern meldete, sollte die Gewehre zur KPD nach München bringen, aber die örtliche Polizei fand die in einer Holzhütte zwischengelagerte Beute. Er konnte sich der Verhaftung durch einen Sprung aus dem Fenster der Mälzerei im Greinbräu entziehen und floh über Griesstätt und Kolbermoor in die Arbeiterhochburg Feldmoching, wohin ihn Max Holy, Landesleiter der Roten Hilfe Bayern, im Motorrad brachte. Die Rote Hilfe besorgte ihm falsche Ausweispapiere (Kurt Radke aus Königsberg) und organisierte im März 1931 die Zugfahrt über Berlin nach Moskau, wo der Genosse aus dem Westen von Rotfront-Rufen der Komsomolzen am Bahnhof empfangen wurde.
Als Sowjetbürger arbeitete er zunächst als Baggerführer in Magnitogorosk im Südural, absolvierte dann eine Parteischulung in Moskau und wurde fortan als Redner im Sowjetreich eingesetzt:
[In Rostow am Don] sprach ich in ein paar Versammlungen in gebrochenem Russisch mit viel deutschen Wörtern gemischt. Man reichte mich von einer Versammlung in die andere und da ich immer das gleiche sprach[,] ging die Sache ganz leidlich. Von der Parteileitung bekam ich immer wieder den Auftrag[,] wohin in die nächste Stadt. Ich sprach unter anderem in Odessa, dann Irkutsk, Wladiwostok.[15]
Die Erfahrungen, die er während des Aufenthalts im Arbeiterstaat sammelte, führten offenbar zur Ernüchterung des bis dahin überzeugten Kommunisten. Als Vorzeige-Gast aus dem Westen bewegte er sich in der besseren Gesellschaft der KP-Funktionäre, aber die sozialen Gegensätze blieben ihm nicht verborgen:
Wir konnten in extra Läden alles[,] aber auch alles kaufen, während die armen Teufel, die Arbeiter in Ihrem Paradies der Arbeiter stundenlang um Brot anstellen mussten. Da bekam meine kommunistische Überzeugung eine richtigen Knacks. Man frage mich[,] wie es mir in Rußland gefalle usw. Ich hab ihr dortiges System über alles gelobt. Ich war doch nicht blöd.[16]
Hochverrats-Prozess und Gefängnisaufenthalt
Hatte Estermann zunächst noch gedacht, seine Familie in die Sowjetunion nachzuholen, beschloss er nach sechsmonatigem Aufenthalt nach Deutschland zurückzukehren. Das deutsche Konsulat in Moskau händigte ihm ein Ausreisevisum aus und im September 1931 kam er in Wasserburg an, wo er sich nach drei Tagen bei Frau und Kindern der örtlichen Polizei stellte.[17]
Das Reichsgericht Leipzig verurteilte ihn im Februar 1932 wegen Waffendiebstahl und Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Gefängnis. Estermann und den Mittätern wurde vorgeworfen, sie hätten die Maschinengewehre in der Absicht entwendet, sie im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaftsordnung für die parteipolitischen Ziele der KPD zu verwenden, während die Beschuldigten einwandten, sie hätten die Waffenbestände aus faschistischer Herkunft nur deshalb beseitigt, damit sie nicht gegen die Arbeiterschaft gerichtet werden können. Allerdings konnten entsprechende Aktivitäten der politischen Rechten anscheinend nicht konkret nachgewiesen werden.[18]
Seinen Gefängnisaufenthalt, den er ab 25. April 1932 in der Haftanstalt Bernau am Chiemsee verbüßte, nutzte Josef Estermann zur Erlernung des Korbmacherhandwerks und am 22. Dezember 1932 wurde er wie viele weitere politische Gefangene im Zuge der sogenannten Schleicher-Amnestie vorzeitig aus der Haft entlassen.[19]
In der NS-Zeit: Von der Lagerhaft zur Wasserburger Freiheitsaktion
Schutzhaft
Estermann wurde nach der Machtübername der Nationalsozialisten mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert.[20] Eine erste Festnahme erfolgte am 3. Februar 1933, als er auf dem Wasserburger Taubenmarkt kommunistische Flugblätter verteilte.
Anfang März 1933 nahm man ihn erneut fest und er musste 50 Tage im Gefängnis auf der Burg verbringen. Noch härter kam es am 12. August, als Polizei und SA sowohl ihn, als auch seine Ehefrau Johanna abführten:
meine Frau und ich wurden um 5 Uhr früh aus dem Bett geholt Die SA-Männer waren alles Schulkameraden von mir. Sie kamen 6 Mann stark stellten die Wohnung auf den Kopf und lieferten uns im hies[igen] Gefängnis ab. Meine Kinder nahm meine alte Mutter. Ich kam auf Dachau[,] meine Frau auf Stadelheim. [21]
Während seines Aufenthalts im Konzentrationslager Dachau war er den unwürdigen Lagerbedingungen mit alltäglichen Schikanen ausgesetzt. Konnte er sich zunächst mit dem Arbeitsdienst in der Lagerküche den schlimmsten Drangsalen entziehen, änderte sich dies drastisch, als aufkam, dass er Lebensmittel für seine unter Hunger leidenden Mithäftlinge entwenden wollte. Da auf Lagerdiebstahl die Todesstrafe folgte, stand er nach eigener Schilderung zum zweiten Mal in seinem Leben kurz vor der Exekution, der er nur deshalb knapp entkam, da dem SS-Scharführer offenbar seine tapfere Haltung imponierte und Aufseher ein Wort für ihn einlegten. Am 28. Mai 1934 wurde er nach mehr als neun Monaten aus dem Lager Dachau entlassen und der Schutzhaftbefehl probeweise aufgehoben. [22]
Aufbau des Korbmacherbetriebs und Gestapo-Kontakte
Wieder zurück in Wasserburg konnte er sich allmählich eine berufliche Existenz als Korbmacher aufbauen und das Bezirksamt Wasserburg gewährte ihm zeitweise staatliche Fürsorge. Dass die Zeit nach seiner Entlassung nicht einfach war, schrieb sich Estermann als fast 80jähriger von der Seele:
Ich musste mich damals täglich melden und zwar beim Winkler Otto der war mal mein Schulkamerad, aber für ihn war ich ein Untermensch, ein Mensch 2. Klasse. Das war so deprimierend, daß ich mich manchmal nach Dachau sehnte, da waren wir Kameraden und [in] Wasserburg traute sich keiner mit mir reden, geschweige verkehren.[23]
Bereits drei Wochen nach der Rückkehr aus Dachau wurde er von Gestapo-Beamten aufgesucht, um ihn als Verbindungsmann zu gewinnen. Sie verliehen ihrem Werben Nachdruck mit dem unmissverständlichen Hinweis Auskunft, oder sonst …!,[24] wie es im späteren Urteil der US-Militärregierung heißt. Laut Estermann kamen die Beamten regelmäßig, wobei er beteuert, sie stets nur mit irrelevanten Informationen bedient zu haben. Josef Estermann stand zudem zumindest zeitweise unter intensiver Beobachtung. Die oberste Gestapo-Stelle in München bestätigte 1939, der Verdächtigte habe sich von der kommunistischen Irrlehre abgewandt und werde kaum mehr Anlass zu einer Beanstandung politischer Art geben.[25] Somit galt der einstige Schutzhäftling auch als wehrdienstwürdig. Er wurde zunächst im März 1938 zum Anschluss Österreichs eingezogen und musste von 27.8.1939 bis 23.01.1940 bei der Panzerabwehr an der Westfront dienen.[26]. Da er ab 1943 in den Werkstätten am Pulverturm kriegswichtige Granatkörbe produzierte, galt er fortan als uk-gestellt, weshalb er weiteren Kriegseinsätzen entkommen konnte. Als Fabrikant von kriegswichtigen Waren beschäftigte er bis zu 31 sogenannte Zwangsarbeiter.[27]
Die Freiheitsaktion
Politisch aktiv wurde Estermann erst wieder in den Jahren vor Kriegsende, als er eine Widerstandsgruppe aufbaute, die sich zunächst „Freiheitsaktion Neues Deutschland“ nannte.[28] Er knüpfte ein Netzwerk aus Nachbarn und weiteren Bürgern, die er als vertrauenswürdig empfand und auf Vertraulichkeit einschwor.
Am Morgen des 28. April 1945, als die Freiheitsaktion Bayern zur Jagd auf die Goldfasanen aufrief, führte Estermann eine Gruppe von Mitstreitern an, die in die Parteizentrale der NSDAP eindrang und die NS-Funktionäre unter Arrest setzte.[29] Vorher hatte man im Postamt am Bahnhofsplatz die Telefonleitungen gekappt, um zu verhindern, dass Hilfe zur Niederschlagung des Aufstands gerufen werden konnte. Anschließend nahm Estermann an einer Versammlung im Wehrmeldeamt Wasserburg teil und veröffentlichte gemeinsam mit Oberstleutnant Puhl, Landrat Dr. Moos, Bürgermeister Baumann eine Erklärung gegen die Verteidigung der Stadt, die mit Flugblättern und über Lautsprecher am Rathaus veröffentlicht wurde.
Als der Gauleiter über Rundfunk den Putsch dementierte wurde Estermann als Rädelsführer verhaftet, konnte aber anschließend aus dem Wehrmeldeamt entkommen und sich auf dem Krankenhausgelände versteckt halten. Am Abend des 2. Mai befreite er einige seiner gefangenen Mitstreiter aus dem Gefängnis auf der Burg und nahm am Morgen des Folgetags Kontakt mit der vor Wasserburg stehenden US-Armee auf, die er in die Altstadt begleitete. Gemeinsam mit weiteren Helfern trug er wohl entscheidend dazu bei, dass die Übergabe der Stadt kampflos erfolgen konnte.
Die Nachkriegszeit: Aufstieg und Fall in der Kommunalpolitik
Ernennung als Bürgermeister
Kurz nach Kriegsende, am 10. Mai 1945, wurde Josef Estermann aufgrund seiner führenden Rolle bei der Wasserburger Freiheitsaktion von der US-Militärverwaltung zum vorläufigen Bürgermeister, temporary mayor, der Stadt Wasserburg ernannt.[30] Um ihn zur Amtsübernahme zu bewegen, soll extra eine Abordnung des F.A.B.-Anführers Rupprecht Gerngross aus München nach Wasserburg gekommen sein.[31] Bereits am Tag der Amtsübernahme forderte der neue Bürgermeister über Lautsprecher die gesamte Einwohnerschaft der Stadt Wasserburg auf[,] in dieser schweren Zeit mitzuarbeiten, daß wir und unsere Kinder einer glücklicheren Zukunft entgegensehen können.[32] Es ging nun daran, in enger Absprache mit dem US-Militärgouverneur einen neuen Stadtrat zu bilden und die drängendsten Fragen des politischen Neubeginns und zur Versorgung der Bevölkerung zu regeln. Estermann ernannte Angehörige der Widerstandsgruppe zu städtischen Hilfspolizisten und besetzte den Stadtrat mit Mitstreitern sowie mit weiteren möglichst unbelasteten Bürgern unterschiedlicher parteipolitischer Ausrichtung. Zuweilen legte er seine Kompetenzen weit aus, etwa wenn er, eigenen Aussagen zufolge, den früheren Leiter des örtlichen SS-Sicherheitsdienstes Steiner in Eigenregie verhaftete [33] oder in den Gemeinden des Landkreises die Absetzung von belasteten Bürgermeistern durchsetzte.[34]
Wechsel ins Landratsamt
Offenbar hatte sich der ursprünglich im Verwaltungshandeln völlig unerfahrene Korbmacher im Bürgermeisteramt bewährt, da ihn der US-Gouverneur Abraham L. Klinger am 10. Oktober 1645 zum Landrat des Kreises Wasserburg beförderte.[35] Freilich dürfte auch die begrenzte Personalauswahl eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls wollten die Besatzer Entschiedenheit auf dem Gebiet der denazification demonstrieren, indem sie beide Spitzenämter in Stadt und Landkreis mit Mitgliedern des Wasserburger Widerstandskreises besetzten und den SPD-Mann Kaspar Wiedemann auf den Bürgermeisterstuhl der Kreisstadt nachrücken ließen.[36]
Nun musste sich Estermann auch auf Kreisebene mit Entlassungen, Beschlagnahmungen, Sperrungen usw. und Beseitigung von Engpässen auf allen Gebieten[37] befassen und war zudem mitzuständig für die Entnazifizierung in 62 Kreisgemeinden. Erschwerend kam hinzu, dass er das Amt zu einer Zeit übernahm, als sämtliche Referatsleiter und Angestellte des Landratsamtes und der Landpolizei auf Anordnung der Militärregierung wegen Parteizugehörigkeit entlassen worden waren.[38] Auch der erst am 10. Mai 1945 ernannte kommissarische Landrat, der Regierungsoberinspektor Johann Unterbirker, musste aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft weichen, wurde aber auf ausdrückliche Bitte Estermanns in untergeordneter Funktion und als dessen rechte Hand“ im Landratsamt belassen. Estermann betonte, bei personellen Entscheidungen stets mit Augenmaß und Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit von Verwaltung und Wirtschaft vorgegangen zu sein:
Nur in den Fällen, wo die Militärregierung sich die Entscheidung selbst vorbehalten hat, habe ich nicht eingegriffen. Leiter von Fachgeschäften wurden in untergeordneter Stellung in einem anderen Geschäft derselben Branche eingestz[t]. Ich bin nämlich der Ansicht, dass es besser ist, wenn Fachkräfte nicht als Strassenkehrer, sondern ihren Fähigkeiten entsprechend, anderweitig Verwendung finden. Ich kann auch nicht die Entnazifizierung eines Landkreises in 8 Tagen vornehmen.[39]
Eindeutige Bestimmungen gab es in den ersten Monaten seiner Amtszeit nicht, da das Gesetz zur Entnazifizierung noch nicht umgesetzt und die Spruchkammer noch nicht installiert war.
Zerwürfnis mit der KPD
Bereits im Dezember 1945 kam es zum Zerwürfnis zwischen Estermann und der örtlichen KPD. Während eines parteiinternen Treffens am 14. Dezember 1945, bei dem auch der Landesvorsitzende der Bayern-KPD Fritz Sperling anwesend war, musste sich Estermann in einer verhörartigen Befragung u.a. ein zu geringes Engagement in Sachen Entnazifizierung und mangelnden Einsatz für die kommunistische Partei vorwerfen lassen. Als man ihm am Ende der Sitzung zur Treue ermahnte und eine Untersuchung ankündigte, sprach Estermann von Hetze und erklärte resigniert seinen Austritt aus der Partei.[40] Kurz darauf reichte der KPD-Mann und vormalige Leiter des Wirtschaftsamts im Landratsamt Wasserburg, Bernhard Steinberger, eine 23 Punkte umfassende Beschwerde gegen den Landrat bei der staatlichen Aufsichtsbehörde ein.[41] Estermann hatte ihn zuvor wegen Verstoß gegen seine Weisungen entlassen müssen. Die Vorwürfe erwiesen sich im Wesentlichen als haltlos, doch die Auseinandersetzungen wurden bald auch öffentlich ausgetragen. Wochenlang lieferten sich Estermann und der KPD-Sekretär Peter Balk ein Wortgefecht über mehrere Artikel im Oberbayerischen Volksblatt.
Suspendierung und US-Militärgerichtsverfahren
Am 1. März 1946 wurde Estermann vom Gemeindienst der US-Armee verhört und anschließend vom Militärgouverneur seines Amtes enthoben.[42] Eine Inhaftierung konnte er durch die Zahlung einer Kaution in Höhe von 10.000,- Reichsmark abwenden, musste aber in den drei Wochen bis zur Gerichtsverhandlung in Hausarrest bleiben.[43] Die Militärregierung hatte in Erfahrung gebracht, dass ihn die Nachrichtenabteilung KPD der Gestapo-Dienststelle München in der Zeit von 1934 bis Kriegsende als Verbindungsmann führte. Estermann hatte die entsprechende Frage im Fragebogen der US-Behörde mit nein beantwortet und war nun dem Verdacht ausgesetzt, er hätte wissentlich und zum Schaden seiner KPD-Genossen Spitzeltätigkeit geleistet. Bei der Verhandlung des US-Militärgerichts am 13.3.1946 im Wasserburger Rathaussaal, vor dem sich Estermann selbst verteidigte, forderte er seinen Freispruch:
Meine Herren! Mein ganzes Leben ist ein einziger Kampf. Reich an Erfolgen und Rückschlägen. Aber kein Rückschlag hat mich so schwer getroffen und erniedrigt, als die Behauptung, dass ich für die Gestapo V Mann war. Mit Stolz kann ich sagen, dass spontan die alten Kampfgenossen und Freunde zu mir kamen, und mich über die schwersten Stunden hinweghalfen. Und ich weiß, möge dieses Urteil ausfallen wie es will, diese Männer wissen, dass ich nicht schuldig bin. [...] Ich behaupte nochmals, niemals Vertrauensmann gewesen zu sein und bekenne mich nicht als schuldig. Ich fordere deshalb meine Freisprechung![44]
Er betonte, nie gewusst zu haben, dass er als V-Mann geführt werde. Er habe Aussagen für die Gestapo nur nach Zwang gemacht und durch geschickte Manöver nie[,] aber auch nie[,] einem Genossen geschadet[45] Die von ihm benannten Zeugen sagten zu seinem Gunsten aus und auch der frühere Leiter der Nachrichten-Abteilung KPD der Gestapo-Dienststelle München, Franz Regnat, offenbarte, dass Estermann als Gestapo-Agent nicht von Wert gewesen sei. Fünf Tage später, am 18.3.1946, wurde das schriftliche Urteil verkündet und Josef Estermann für unschuldig erklärt. Er konnte mit sofortiger Wirkung seinen Posten als Landrat wieder antreten. Das Gericht führte aus, dass er zwar unzweifelhaft als V-Mann geführt wurde und ihm diese Stellung als Spitzel bewusst war. Es könne aber weder von einer freiwilligen Mitwirkung gesprochen werden, noch sei nachweisbar, dass Estermann brauchbare Informationen lieferte oder durch ihn Dritte zu Schaden kamen.[46]
Empfohlene Zitierweise:
Robert Obermayr, Josef Estermann, publiziert am 07.02.2022 [=Tag der letzten Änderung(en) an dieser Seite]; in: Historisches Lexikon Wasserburg, URL: https://www.historisches-lexikon-wasserburg.de/Josef_Estermann (25.12.2025)
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- ↑ Tonband-Interview von Hans Klinger mit Josef Estermann vom 17.6.1975, StadtA Wasserburg a. Inn, VIT-082
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 1, 1, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Tonband-Interview von Hans Klinger mit Josef Estermann vom 17.6.1975, StadtA Wasserburg a. Inn, VIT-082.
- ↑ Hans Klinger, Der UNHEILIGE Josef, Manuskript, ohne Datum, von privat, 16
- ↑ Tonband-Interview von Hans Klinger mit Josef Estermann vom 17.6.1975, StadtA Wasserburg a. Inn, VIT-082.
- ↑ Wehrpass Josef Estermann, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Tonband-Interview von Hans Klinger mit Josef Estermann vom 17.6.1975, StadtA Wasserburg a. Inn, VIT-082
- ↑ Ausweis der Stadtkommandantur München vom 1.5.1919, StadtA Wasserburg a. Inn, VI4041
- ↑ Hans Klinger, Gestorben wird erst später… Ein deutscher Lebenslauf, St. Michael 1984, 54
- ↑ Hans Klinger, Der UNHEILIGE Josef, Manuskript, ohne Datum, von privat, 142
- ↑ StadtA Wasserburg a. Inn, II2303
- ↑ Hans Klinger, Der UNHEILIGE Josef, Manuskript, ohne Datum, von privat, 150ff
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 1, 10, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 1, 10ff, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 2, 13, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 2, 14, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 2, 28, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Die Wasserburger Maschinengewehre, Trostberger Tagblatt, Artikel datiert auf 19.08.1931, StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Staatsanwaltschaft Traunstein, Abschrift aus dem Strafregister vom 20.06.1939,StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Obermayr, Jetzt kommt da Estermann, 323ff.
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 2, 24, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Beschluss der Bayerischen Politischen Polizei vom 26.04.1934, StAM, LRA111216
- ↑ Aufzeichnungen Josef Estermann, Heft 3, 18f, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Personalakte Josef Estermann, Abschrift der Urteilsverkündigung vom 18.03.1946 BayHStA, MINN 96106
- ↑ Schreiben der Gestapo München vom 05.08.1939, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Wehrpass Josef Estermann, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ [[Quellen-_und_Literaturverzeichnis#Haase/Rauschenberger, Zwangsarbeit| Haase/Rauschenberger, Zwangsarbeit, 340
- ↑ Obermayr, Jetzt kommt da Estermann, 62ff.
- ↑ Obermayr, Jetzt kommt da Estermann, 74ff.
- ↑ Befehl der US-Militärregierung vom 10.5.1945,StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Tonband-Interview von Hans Klinger mit Josef Estermann vom 17.6.1975, StadtA Wasserburg a. Inn, VIT-082
- ↑ Kirmayer, Chronik, Eintrag vom 10.5.1945.
- ↑ früherer Redeentwurf Meine Herren Richter, 2, StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Untersuchung in der Angelegenheit Estermann, KPD Wasserburg, 4, StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Ernennung als vorläufiger Landrat, US-MilitärverwaltungStadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Obermayr, Jetzt kommt da Estermann, 291ff.
- ↑ Ein Verwaltungsbeamter: Die Wohnungsaktion wird verwässert, Oberbayerisches Volksblatt, undatiert, vermutlich vom 9.7.1946, StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Redeentwurf zur Kreistagssitzung, vermutlich am 30.05.1946, 1, StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Offener Brief an die Bezirksleitung der KPD vom 14.1.1946, StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Untersuchung in der Angelegenheit Estermann, KPD Wasserburg, StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Personalakte Josef Estermann, Schreiben des Regierungspräsidenten vom 15.1.1946 BayHStA, MINN 96106
- ↑ Schreiben Military Gouvernement vom 01.3.1946StadtA Wasserburg a. Inn, VI1141
- ↑ Tonband-Interview von Hans Klinger mit Josef Estermann vom 17.6.1975, StadtA Wasserburg a. Inn, VIT-082
- ↑ Redemanuskript Meine Herren, 3, StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Protokoll des Prozesses vom 14.3.1946, 1 StadtA Wasserburg a. Inn, VI5606
- ↑ Personalakte Josef Estermann, Abschrift der Urteilsverkündigung vom 18.03.1946 BayHStA, MINN 96106